Kapitel 3

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"Beeil dich", krähte Tante Betty von unten. Ich seufzte und schnappte mir einen kleinen Rucksack, bevor ich die Treppe hinunter rannte. Laut Tante Betty war es ungewöhnlich kalt (aus meiner Sicht trotzdem noch brennend heiß-) für Ende Juni, also zog ich mir eine Jacke über, wenn auch nur eine leichte. Zum Glück war es nicht mehr ganz so warm wie heute morgen, weshalb ich diese Entscheidung nicht unbedingt bereute.

Ich hatte vorhin noch mehrere Stunden geschlafen (die ca. 10 Stunden im Flugzeug hatten mir nicht gereicht) und konnte so erholt die Premiere genießen. Trotz der Tatsache, dass ich kein Marvelfan war, hörte es sich doch irgendwie interessant an, eine Premiere zu besuchen. Außerdem würden Schauspieler da sein. Viele, mehr oder weniger berühmte Schauspieler.

Um mir die Premiere nicht komplett ahnungslos anzutun, hatte ich mich ein wenig bei Flynn informiert. Er war geplatzt vor Neid. Zumindest hatte es sich so angehört. Er hatte gesagt, ich könne mich glücklich schätzen. Schließlich würde ich eine neue Spidermanversion als eine der ersten Personen ansehen dürfen. Dann hatte er mir einen endlosen Vortrag über gefühlt unendlich viele Charaktere und Filme des MCU gehalten. Als er schließlich angefangen hatte, von Civil War zu erzählen (war das  ein Film? Ein Krieg in einem Film? Oder eine Person? Ich wusste es nicht), hatte ich aufgelegt. Inzwischen waren meine Tante und ich bei ihrem Auto angekommen. Es war noch genauso klein wie in meiner Erinnerung. Nachdem ich mich auf den Rücksitz gequetscht und die Hundehaare um mich herum misstrauisch begutachtet hatte, holte ich mein Handy aus der Jackentasche.

Einpaar 'Wie geht es dir?' und 'Ist Tante Betty nett?' -Nachrichten von meiner Mutter. Sie hatte mich mal wieder vollgespamt. Ich seufzte genervt. Sie machte sich immer Sorgen. Und das meinte ich ernst. Einmal war ich mit meinen Freundinnen im Freibad gewesen - die mich übrigens stark beneideten; dafür, dass ich meine Ferien in den USA verbringen durfte - und meine Mutter hatte übertrieben und mir sechs Packungen Sonnencreme eingepackt - obwohl es nur 25°C waren. In der Sonne. Ich hatte natürlich nicht alle Sonnencremes gebraucht, aber sie ihr zu Liebe trotzdem auf meine blasse Haut geschmiert. Später hatte ich noch genauso sehr nach Stubenhockerin ausgesehen wie vorher. Das störte mich allerdings nicht sonderlich, Sonnenbrand wäre auch nicht schön gewesen. 

Während wir also durch Los Angeles fuhren überlegte ich, ob ich bei der Premiere wohl alles verstehen würde – schließlich würde der Film auf Englisch abgespielt werden und die einzige Sprache, die ich wirklich gut beherrschte, war Deutsch. Allerdings hatte ich seit über neun Jahren Englischunterricht, der musste doch irgendwie geholfen haben. Hoffte ich jedenfalls. Zumindest konnte ich die Schuld im Notfall auf meine bisherigen Englischleher schieben – die würden eh nie davon erfahren.

Bis jetzt hatte in den USA ich keine Gelegenheit gehabt, meine Fremdsprachenkentnisse unter Beweis zu stellen (ausgenommen jener Sommer in LA vor drei Jahren), da ich mit Tante Betty ausschließlich Deutsch sprach. Trotzdem, irgendwann würde ich es tun müssen, spätestens, wenn ich bei dieser grandiosen Eisdiele in der Nähe von Bettys Haus ein Eis bestellen wollte. Meine Gedanken schweiften ab, zu meiner Schule, zu meinen Freunden. Wie gerne ich jetzt bei ihnen wäre...

Tante Betty hatte mein unbewusstes vor mich hin Seufzen anscheinend gehört, denn sie drehte sich zu mir um. „Ist alles okay, Callieschätzchen?" Nein, war es nicht. „Natürlich", lächelte ich. Hoffentlich sah mein Lächeln nicht genauso gehässig aus wie das der Flugbeamtin. Ich befürchtete das Gegenteil und ließ mein Lächeln aus diesem Grund lieber komplett verschwinden. Ich wollte wieder in meine Gedankenwelt flüchten, doch Tante Betty hatte anderes vor. Sie schien voll und ganz darauf konzentriert zu sein, ein Gespräch mit mir anzufangen. Langsam bekam ich ein wenig Angst. Aus Erfahrung wusste ich, dass sie nicht die beste Autofahrerin war – und wir fuhren gerade durch ein belebtes Stadtteil, während ihr Blick immer noch auf mir und nicht auf der Straße lag.

Also wunderte ich mich nicht darüber, dass sie wenige Augenblicke später eine Vollbremsung einlegen musste, nur wenige Augenblicke, nachdem ich laut "Achtung!" gerufen hatte. Doch Tante Betty schien die Tatsache, dass sie gerade fast eine unschuldige Passantin über den Haufen gefahren hatte, nicht zu erschrecken; nein, eher im Gegenteil: sie fing an, zu Lachen. Falls dieses Lachen in irgendeiner Art und Weise hysterisch war, konnte sie die Hysterie darin relativ gut verstecken - sie wirkte noch genauso entspannt wie vor wenigen Minuten. "Das war ja knapp, was, Callie?", meinte sie vergnügt. Ich wagte ein stummes Nicken.

Meinte Tante hatte meine Beunruhigung anscheinend bemerkt, denn sie sah mich lächelnd an. "Keine Sorge, Callieschatz - sowas passiert mir fast jeden Tag." Jetzt war ich noch beunruhigter als vorher. Toll. Naja, konnte sie ja nicht wissen. "Alles wieder gut?", fragte meine Horrorfahrerin aufmunternd. Hielt Betty mich für ein Kleinkind? Ich hätte gerne etwas erwidert, sie möglicherweise angeschrien, um meine Anspannung loszuwerden - doch das einzige, was ich sagte, war "Ja."

Ich wünschte nur, wir würden sicher bei der Premiere ankommen - all mein Vertrauen in Tante Betty war mehr oder weniger verschwunden.

Why me?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt