Hunt [7]

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In einer Großstadt, wie dem District Nine, kam der Nebel zuweilen gänzlich unerwartet. Der Morgen mag völlig klar sein, doch dann zogen von einen Augenblick auf den nächsten graue Nebelschwaden auf, so dicht, dass man kaum mehr die eigenen Füße erkennen konnte. An diesem speziellen Februarmorgen senkten sich die Nebel um sechs Uhr dreißig, ungefähr zu der Zeit, als Bang Chan seine morgendliche Joggingstrecke absolvierte. Er genoss die Stille, welche damit einherging, sog die Kälte des Winters in sich hinein, um seinen Kopf zu befreien. Noch immer schlichen sich die Bilder des Grauens, welches er am Vortag gesehen hatte, durch sein Gedächtnis.
Er lebte schon eine ganze Weile auf dieser Erde, hatte Kriege und Massaker erlebt, und doch erholte er sich nie vollends von dem, was seine Augen erblickten. Nicht gänzlich. Würde er sich nicht anderweitig beschäftigen, wie durch das Joggen, oder sein Klavier, hätten seine Gedanken ihn wahrscheinlich schon längst zerfleischt. Er stieß einen Schwall Luft aus seinem Mund und sog im gleichen Atemzug wieder welche ein. Chan erreichte den Friedhof, dessen verschlossenes Tor, wie immer, halb aus der Verankerung hing. Der Maschendrahtzaun hatte bessere Zeiten gesehen. Er gehörte zu einem der am längsten erhaltesten der Stadt und die ältesten Grabsteine datierten bis ins sechszehnte Jahrhundert zurück. Viele der Zahlen und Namen waren mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Aber die, die Chan selbst als Fall bearbeitete, glänzten beinahe wie frisch poliert, wann immer er an ihnen vorbei rannte. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich jedes Mal in ihm aus, jagte klitzekleine Eissplitter durch ihn hindurch. Als würden die Toten ihn anflehen, dass er sie zurück ins Land der Lebenden holte.
Sein Pager riss ihn aus seinen Gedanken und er spreizte vor Schreck die Flügel. Nach einem kurzen Blick über das Gelände beruhigte er sich.
Niemand hat dich gesehen. Außer die Toten.
Erst jetzt bemerkte er, wie ironisch die Tatsache war, dass er trotz seines Jobs, der mit dem Tod zu tun hatte, stets hier entlang lief, wo die Gefallenen ihre letzte Ruhe fanden. Sein Blick streifte den Pager. Noch immer pumpte sein Herz aufgrund des Sports. Das Adrenalin schoss im Sekundentakt durch seinen Körper. Selbst auf der Stelle hörte er es in seinem Körper zirkulieren, wie sein Blut.
Code Gray
Zeit für die Jagd.
Mit einer einzelnen fließenden Bewegung spannte er seine Flügel auf, trennte sich mit einem Sprung vom Boden ab und erhob sich in die Lüfte. Für Chan war es stets ein berauschendes Gefühl sich durch die Winde zu bewegen. Dem Strom zu folgen oder ihm entgegen zu wirken. Der Himmel war, seit er fünf Jahre alt war, sein Zuhause. Wann immer er die Kälte auf seiner Haut, auf den sensiblen Stellen seiner Flügel spürte, wusste er, hier oben konnte ihm niemand etwas anhaben. Hier oben war er in Sicherheit. Dass er mit ihnen in Windeseile von einem Ort zum Nächsten kam, gehörte nur zu einem der Vorteile beflügelt zu sein.
Fliegen war Freiheit. Fliegen war Leben.
Das machte ihn aus.
Es gab eine Zeit, wo ihm dieses Spektakel verwehrt blieb und genau über diese Zeit sprach er nicht. Niemals. Selbst wenn Seungmin oder Changbin oder sonst jemand aus seinem Team ihn darauf ansprach, er hüllte sich stets ins Schweigen.
"Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch unter die Dusche zu springen", ertönte es, nachdem der Blonde auf dem Balkon landete.
Der Seraphim strahlte, wie jeden Tag, diese unerschütterliche Ruhe aus, welche Chan stets schätze, ja manchmal sogar aufsuchte, um nicht durch die Geschehnisse der Vergangenheit oder des öfteren der Gegenwart, gebrochen zu werden.
Er nickte knapp, während sein Atem Luftwolken erzeugte. Seungmin und er teilten sich eine Wohnung. Wie diese Konstellation zustande gekommen war, blieb dem Blonden bis heute ein Rätsel, denn so ganz konnte er sich an jene Nacht nicht erinnern, wo sie, nach einem abgeschlossen Fall noch eine Bar aufgesucht hatten. Jedenfalls hielten sie im Nachhinein gemeinsam einen Vertrag in den Händen. Stören tat es den Dämon überhaupt nicht. Einen Mitbewohner zu haben, erschien ihm wesentlich angenehmer, als allein zu sein.
"Wie geht's dir?", fragte ihn Seungmin, der ihm folgte. Sein verschwitztes Shirt warf er achtlos zur Seite, um anschließend schleunigst ins Bad zu gelangen. Er mochte Seungmin wirklich, doch auf eine Konfrontation mit ihm über seine derzeitige Gefühlslage konnte er verzichten. Als Antwort gab er nur ein Schnauben von sich, um seine Wut zu demonstrieren.
"Wie soll es mir schon gehen? Wir jagen meinen Exmann."

Children Songs {ChangLix}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt