Ich war schon eine Weile wach und starrte zu dem gelben Fenster. Mit der Zeit war es immer heller geworden, ich wusste nicht, ob es noch heller werden würde. Aber es war auf jeden Fall Tag, auch wenn ich noch immer nicht verstanden hatte, warum das hier so langsam passierte. Vater machte immer das Licht an und es war vom einen auf den nächsten Moment Tag. Hier war einfach alles anders.
In der Nacht hatte ich lange mit Lilly gesprochen. Sie hatte mich wieder davor gewarnt, den Menschen zu sehr zu vertrauen. Ihnen zu glauben, dass sie mir nicht wehtun würden. Sie hatte mich daran erinnert, dass die Menschen genau das erreichen wollten. Sie wollten, dass ich ihnen vertraute, um mich ausquetschen zu können. Und da ich nichts über Vater wusste, würden sie mich anschließend foltern.
Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Natürlich hatte ich Angst. Angst, dass sie mich foltern würden, aber auch Angst, dass sie mich bestrafen würden, weil ich durch die Tür gegangen war. Trotzdem hatte ich Lilly erklärt, dass Kinder nicht lügen durften. Wenn Sarah also sagte, dass ihr niemand wehtat und dass auch mir niemand wehtun würde, dann musste das die Wahrheit sein. Es musste einfach so sein.
„Gegen wie viele Regeln hast du heute verstoßen?", hatte Lilly wissen wollen.
Mir war übel geworden. Ich glaubte, ich hatte gegen fast alle Regeln verstoßen, die es gab. So fühlte es sich zumindest an. Wenn Vater das wüsste... Er würde mich so hart bestrafen, dass ich wünschte, ich wäre tot!
Würde mein neuer Vater mich doch noch bestrafen? Ich wusste es einfach nicht, was mein Herz jedes Mal schneller schlagen ließ, wenn ich daran dachte. Aber er war anders, genauso wie seine Regeln. Ich konnte es mir nicht erklären und verstand es immer noch nicht, aber irgendwie wollte er immer genau das Gegenteil von dem, was Vater gewollt hatte. Er sagte, dass all die alten Regeln nicht mehr galten. Alles, was Vater mir beigebracht hatte, war nun nicht mehr richtig. Das machte es mir wirklich schwer zu wissen, wie ich mich verhalten sollte. Mein Leben lang war mir klar gewesen, was richtig und was falsch war, was Vater gefiel und was nicht, wofür ich bestraft werden würde und wofür nicht. Aber jetzt? Das alles überforderte mich! Würde Vater mich tatsächlich nicht bestrafen? Alle sagten das. Und sie behaupteten alle, dass es die Wahrheit war. Aber konnte ich das wirklich glauben?
Den großen Menschen vermutlich nicht.
Aber Sarah.
Sarah war ein Kind, sie durfte nicht lügen! Auch wenn Lilly skeptisch war und mir geraten hatte, weiterhin vorsichtig zu sein und zu versuchen, so viele Regeln wie möglich einzuhalten, musste Sarah die Wahrheit gesagt haben. Ansonsten machte es doch auch keinen Sinn, dass die Menschen mich seit den Schrauben im Fuß und dem, was sie in meinem Kopf gemacht hatten, nicht mehr bestraft hatten. Okay, da waren diese Handschuhe gewesen und sie hatten meinen linken Arm gefesselt. Aber hatten sie mir bisher wehgetan? Die Schrauben waren gruselig, doch ich hatte – wie auch immer das möglich war – nichts davon mitbekommen. Ich hatte Schmerzen, aber die waren schon vor den Schrauben da gewesen. Das Auto hatte meinen Fuß verletzt. Auch mein Kopf tat sehr weh, aber das lag nicht nur daran, dass sie irgendetwas damit gemacht hatten. Das Auto hatte nicht nur meinen Fuß verletzt, sondern auch meinen Kopf. Außerdem hatte ich ihn, um mich selbst zu bestrafen, gegen das Schränkchen geschlagen. Ich spürte, wenn ich über den Verband an meiner Stirn strich, die dicke Beule, die das hinterlassen hatte. Dass mein restlicher Körper wehtat, lag auch nicht an den Menschen, sondern an dem Auto und an den Schnitten, die ich mir selbst zugefügt hatte, um mich zu bestrafen. Ich verstand es einfach nicht, es verwirrte mich ganz schrecklich, aber die Menschen hatten mir noch nicht wirklich wehgetan – obwohl ich schon so viel falsch gemacht hatte. Sie hatten allen Grund, mich für meine Fehler zu bestrafen. Ich war ein böses Kind gewesen.
„Das wird vermutlich noch kommen. Denk an Vaters Worte. Sie wollen dein Vertrauen gewinnen und dann foltern sie dich. Dann werden sie dir so sehr wehtun, wie Vater es noch nie getan hat."
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Lost Girl
Mystery / ThrillerEin Mädchen. Gefunden im Wald. Verletzt und gefesselt. Wer ist sie? Woher kommt sie? Wieso spricht sie kein Wort? Und warum scheint sie vor allem und jedem panische Angst zu haben? ------------------------------------------------- Triggerwarnung:...