Tage werden kommen

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Rom, Herbst 57

Es war gut sechs Wochen nach dem Treffen mit Herodes im Anwesen des Pompeius, am Morgen vor dem folgenden Schabbat, als sich Jonathan früher als gewöhnlich von den Dienern wecken ließ. Den letzten Monat hatte er dazu genützt, die nötigen Reisevorbereitungen zu treffen, und war ansonsten seinen alltäglichen Beschäftigungen nachgegangen. Schließlich war es Herodes, der ihm den Befehl erteilen musste, nach Ägypten aufzubrechen, er selbst konnte inzwischen lediglich warten. Vor ein paar Tagen hatte er dann eine verschlüsselte Nachricht erhalten, die mit der Hilfe seines Onkels einfach zu entziffern war. Tage werden kommen, hieß es darin, seid jederzeit bereit.

Jonathan war bereit. Er war bei Tagesanbruch aufgestanden, denn er wollte in der Rhetorikschule seine Schreibmaterialien und die Papyrusblätter mit seinen angefangenen Reden abzuholen, sich von Lucius verabschieden und schließlich Calvus in seiner Privatbibliothek, die im Haus seines Vaters außerhalb der Stadtmauer beim Campus Martius lag, einen Besuch abstatten. Schnell zog er sich an, wusch sich notdürftig mit etwas kaltem Wasser das Gesicht und nahm im Gehen ein Stück Brot und ein paar Brocken Käse vom Küchentisch, den die Mägde für ihn gedeckt hatten. Er trat vor das Haus und wäre beinahe mit Lucius zusammengestoßen, der gerade im Begriff war, den schweren Türklopfer zu betätigen und sich damit bei der Dienerschaft Gehör zu verschaffen.

"Lucius!", rief Jonathan überrascht aus und berührte den anderen zum Gruß am Unterarm. Lucius wirkte verlegen, eine leichte Röte lag auf seinem Gesicht. 

"Jonathan, es tut mir leid", begann er hastig, "ich kann mir vorstellen, dass du meinen Besuch sehr unangemessen findest. Aber in der Nacht..." Er unterbrach sich, atmete tief aus und setzte erneut zu sprechen an. "Ich habe geträumt, dass du abreist. Ich weiß, es ist lächerlich, aber am Morgen, da war ich mir ganz sicher, dass du heute nicht mehr zum Unterricht kommen würdest." Er sah Jonathan unsicher in die Augen, ganz so, als würde alles von dessen Urteil abhängen.

Jonathan schmunzelte. "Ich war tatsächlich am Weg, mich bei dir zu verabschieden", meinte er ruhig.

"Am Weg zu mir?", vergewisserte sich Lucius und Jonathan nickte. "Du wärest also nicht einfach fortgegangen", stellte Lucius fest und seine Stimme klang nun ruhiger, beinahe glücklich.

"Natürlich nicht", erwiderte Jonathan entschlossen. "Nachdem Silas und Jetur durch meine Dummheit den Tod gefunden haben, bist du mein einziger Freund", fügte er hinzu und Lucius war sich nicht sicher, ob er hatte scherzen oder seinen Schmerz zum Ausdruck bringen wollen. Jedenfalls lächelten sie beide. Dann blieben sie eine Weile still. Auch die Straße schien noch zu schlafen, allein das Zwitschern der Vögel war zu hören.

"Ich habe dir zum Abschied etwas mitgebracht," meinte Lucius, und sie mussten nun beide herzhaft lachen, denn auch Jonathan hatte gerade zu sprechen angesetzt und dabei einen kleinen Lederbeutel aus seiner Tasche hervorgekramt. Lucius machte eine einladende Geste. "Du zuerst", sagte er, denn er konnte seine Neugierde nur schlecht unterdrücken.

Jonathan hielt ihm den Beutel in der offenen Hand hin. Lucius nahm ihn an sich und löste behutsam das Bändchen. "Ist das ein Geschenk, wie es jüdische Priester machen?", erkundigte er sich scherzend, während er das fein gearbeitete dünne Silberröllchen betrachtete, das er inzwischen vorsichtig aus dem Behältnis gezogen hatte.

"So ist es", entgegnete Jonathan wohlwollend, "es ist der Aaronsegen. Er hat eine besondere Bedeutung für mein Volk."

Lucius wollte antworten, aber es gelang ihm nicht, die richtigen Worte zu finden. Nach den vielen Stunden Rhetorikunterricht, ging es ihm durch den Kopf. Während er noch überlegte, was er sagen sollte, hatte ihn Jonathan schon in die Arme genommen. Die Umarmung war zunächst steif, doch weil keiner der beiden sich so schnell vom anderen befreien zu wollen schien, wich allmählich die Spannung und es blieb nur ein Gefühl von Wärme und Verbundenheit. "Sei gegrüßt, mein Freund", hörte Lucius Jonathan flüstern. Seine Stimme klang vertraut, sein Gesicht war nah an dem seinen und er wusste, dass er noch im selben Augenblick eine Distanz zwischen sie bringen musste, wollte er sich nicht in seinen Gefühlen verlieren. Er ließ Jonathan los und machte einen kleinen Schritt nach hinten. Dann reichte er ihm schnell eine mit kunstvollen Ornamenten verzierte Elfenbeinschatulle, die er unter seinem Umhang versteckt hatte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt