Warten

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Irgendwann erloschen die Öllampen und um Silas herum war alles dunkel und still. Ich muss schlafen, sagte er sich. Wie soll ich sonst morgen arbeiten? Doch in keiner der ihm möglichen Positionen war an Schlaf zu denken. Auch wusste er nicht einmal, ob ihn bei Tagesanbruch jemand befreien würde, ob er zuvor noch bestraft werden würde oder gar weiterhin sich selbst überlassen ausharren musste. Wie werde ich Harendotes erklären, warum ich nicht zur rechten Zeit am Hafen war, überlegte Silas und schnaubte dabei verächtlich. Und wenn ich es ihm auch nicht erklären kann, sagte er sich, Harendotes ist selbst schuld, wenn ich ihn enttäusche. Hat er nicht gesehen, was Anek mit mir vorhat? Hätte er mich nicht schützen können? Silas atmete schwer. Er fand schon lange keine erträgliche Körperhaltung mehr. Ich muss die Stange aus der Verankerung lösen, dachte er, ganz gleich, was es für Folgen haben wird. In dem Moment hörte er das gedämpfte Knarren der Tür, dann Schritte, die sich ihm näherten.

„Silas?", fragte eine zarte, unsichere Frauenstimme. Es war Nayla. Obwohl der Raum dunkel war, schien sie keine Schwierigkeiten zu haben, sich zu orientieren. Im spärlichen Mondlicht erkannte Silas, wie ihre Silhouette sich ihm näherte. Ohne zu zögern hob sie die Stange an und legte sie vorsichtig auf den Boden. Silas stöhnte leise auf.

„Ich hätte früher kommen wollen", flüsterte sie, „aber es schien mir besser zu warten, bis er schläft."

„Ja", erwiderte Silas matt. Er wollte mehr sagen, ihr danken in erster Linie, doch sein Inneres fühlte sich leer an und ausgehöhlt. Er spürte, dass Nayla begann, die Stange auszudrehen und damit das Seil zu lockern. Ihre Bewegungen waren sicher und doch fürsorglich. Während sie das Holz drehte, hob sie seine Fersen leicht an, sodass die Haut unverletzt blieb. Zuletzt schnitt sie mit einem kleinen Messer das Band durch, das seine großen Zehen zusammenhielt.

„Kannst du gehen?" erkundigte sie sich besorgt.

„Ja", antwortete Silas stumpf. „Er hat mir nichts getan." Mühsam stand er auf, doch seine Beine wollten ihm nicht ohne weiteres gehorchen. Er konnte sich nur mühsam auf den Füßen halten und seine Knie schienen unter der Last des Körpers wegzubrechen. Nayla reagierte schnell und stütze ihn unter den Achseln.

„Ich kann kaum allein stehen", bemerkte Silas bitter.

„Das gibt sich", entgegnete Nayla schnell und führte ihn in Richtung Tür. „Geh in deine Kammer und versuch zu schlafen", befahl sie. Silas nickte und machte sich dabei bewusst, dass sie die Geste im Dunkeln vermutlich nicht hatte sehen können. Nayla öffnete die Tür und schob Silas energisch hinaus. „Ich danke dir", sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

„Wofür?", gab Silas hart zurück.

„Dafür, dass du dein Versprechen gehalten hast."

Silas lachte bitter auf. „Habt ihr uns denn reden gehört?", erkundigte er sich.

„Nein", erwiderte Nayla, „aber wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich dich in einem anderen Zustand angetroffen."

Silas nickte wieder, verbeugte sich leicht und ging dann, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, mit wackeligen Schritten in Richtung seiner Kammer. Dort angekommen legte er sich sofort hin und schlief bald darauf ein. Ich habe ihr nicht einmal gedankt, war das letzte, was ihm durch den Kopf ging.

Am nächsten Morgen stand Silas noch früher auf als sonst und brachte die Listen in Ordnung, denen er sich am Abend zuvor nicht mehr hatte widmen können. Dann machte er sich wie üblich auf den Weg zum Hafen. Dabei wurde ihm bewusst, wie viele Schritte es waren, die den Palast des Harendotes vom Meer trennen. Und er stellte sich auch vor, wie schmerzhaft es hätte sein müssen, diesen Weg zurückzulegen, wenn Anek ihn am letzten Abend doch noch gezüchtigt hätte. Wie es für Sklaven üblich war, trug Silas keine Schuhe, ja er wusste von Charilaos, dass es in Ägypten sogar ein Gesetz gab, welches vorschrieb, dass Sklaven barfüßig zu sein hatten. Das hat wohl damit zu tun, dass auf diese Weise die Wirkung der Sohlenstreiche gesteigert werden kann, überlegte er. Er beobachtete die Sklaven, die vor ihm gingen, und es schien ihm, dass zumindest der eine oder andere die Füße zaghaft aufsetzte. Es ist eine grausame und schlechte Welt, sagte sich Silas, es gibt nichts, worum es einem leidtun müsste.

Der Abend verlief dann zunächst wie der vorherige. Das Warten vor der Tür, die Angst, die zitternden Knie. Dann der Bericht, den er Harendotes vortrug, seine Zerstreutheit. Anders als am Tag zuvor fixierte Silas die ganze Zeit über angespannt die Tür. Denn er war sich sicher, dass Anek früher oder später eintreten und das nachholen würde, wovon ihn am anderen Abend sein angegriffener Gesundheitszustand abgehalten hatte. Doch die Tür wurde nicht geöffnet. Harendotes entließ ihn und kurz darauf fand sich Silas im Gang vor den Herrschaftsräumen wieder. Er wusste, dass Naylas Schlafgemach ein paar Türen weiter rechts lag. Gerade bog ein Sklavenmädchen um die Ecke, das auf seinem Kopf einen schweren Krug balancierte. Als die Schritte verhallt waren, lag der Gang still und verlassen da. Silas überlegte kurz. Dann ging er in die Richtung von Naylas Privaträumen.

Er klopfte an und als eine junge Sklavin öffnete, trat er ein, ohne um Erlaubnis zu bitten. Silas machte ein paar Schritte in den Raum hinein, dann verbeugte er sich vor Nayla, die mit hochgelagerten Beinen auf einer Liege ruhte und sich die Fingernägel mit Hennazeichnungen verzieren ließ. Die Mädchen sahen von ihrer Arbeit auf und warfen ihrer Herrin einen fragenden Blick zu.

„Macht nur weiter", befahl Nayla, „solange die Farbe noch heiß ist." Sie sah Silas einen Moment in die Augen, dann sagte sie an ihn gerichtet: „Komm, setz dich zu mir und erzähl mir, was dir Kummer bereitet." 

Silas blieb einen Moment wie versteinert stehen. Naylas freundlicher Empfang und ihre Nachsicht gegenüber seinem respektlosen Auftreten berührten ihn. Und doch hatte er eine Entscheidung getroffen und er war hier, um sie Nayla mitzuteilen. Er sah sich kurz im Raum um und entdeckte einen Hocker, der schlicht war, allem Anschein nach nicht besonders bequem und sich insofern für einen Sklaven eignen sollte. Er nahm den Schemel, stellte ihn die Nähe seiner Herrin und setzte sich.

„Wie geht es eurem Bruder", erkundigte er sich und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme ein wenig zitterte.

„Er ruht sich aus", antwortete Nayla. „Charilaos behandelt ihn, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er an den Erfolg seiner eigenen Kuren glaubt."

„Er tut eben, was er muss, um nicht bestraft zu werden", stellte Silas bitter fest.

„Silas, was hast du?", fragte Nayla, denn der aggressive Tonfall seiner Worte war ihr nicht entgangen.

„Wie lange wird Anek hier bleiben?", gab Silas zurück, ohne ihre Frage zu beachten.

„Ich weiß es nicht, nicht lange, vielleicht zwei oder drei Wochen", erwiderte sie. Ihre Stimme klang besorgt. „Sollen wir noch einmal über einen Aufenthalt bei meiner Tante nachdenken? Es könnte auch vorübergehend sein."

Silas schüttelte den Kopf. Er sehnte sich danach, ihr zu gestehen, wie groß sein Verlangen nach ihr und ihrer Nähe war, ihr zu sagen, dass er sie liebte. Doch das war nicht der Grund, weshalb er gekommen war.

„Ihr seid allzu gütig zu mir, Nebet", stellte er trocken fest. „Aber ihr habt schon zu viel für mich getan." Er wartete und auch Nayla schwieg. Die Mädchen hatten ihr Werk vollendet und zogen sich nun in den hinteren Teil des Raumes zurück, um dort die Schälchen und die feinen Stäbchen, mit denen sie die Farbe aufgetragen hatten, zu reinigen. „Ich möchte euch noch um einen letzten Gefallen bitten."

Wieder verging etwas Zeit. Nayla beobachtete ihn aufmerksam, sagte aber nichts.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt