Würde

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„Könnt ihr", sagte Silas, dann stockte er. Naylas Schönheit und das warme Gefühl, das sie in seinem Herzen auslöste, hinderten ihn, seine Bitte auszusprechen. Er dachte daran, wie oft er sich gewünscht hatte, in diesem prunkvollen, Licht durchfluteten Raum nicht als Sklave ihres Vaters, sondern als Sohn eines wohlhabenden griechischen Händlers empfangen zu werden. Aber dem war nicht so. Und es würde auch nie so sein. „Könnt ihr euch an den Dolch erinnern", setzte er daher noch einmal an, „den ihr mir damals versprochen habt?"

„Silas!" rief Nayla erschrocken aus. „Was redest du da!"

„Meine Frage, Nebet", erwiderte er schnell, „muss euch undankbar erscheinen. Deshalb möchte ich vor allem anderen um Verzeihung bitten. Ihr wisst nicht, wie sehr ich euch für das Leben danke, das ihr mir ermöglicht habt." Er hielt kurz inne. „Und als ich mich vor eurem Bruder erniedrigt habe, war es nicht nur mein Versprechen an euch, das mich dazu gebracht hat. Es war auch mein Wunsch, dieses Leben weiterführen zu können. Ich war entschlossen, alles zu tun und alles zu sagen, was Anek irgendwie gefallen könnte, einfach nur, damit ich nicht verliere, was ich durch eure Gnade erhalten habe." Silas beugte sich ein wenig nach vorne und stützte seine Unterarme auf den Oberschenkeln auf. Dann setzte er leise zu sprechen fort. „Eine Arbeit, die mir gefällt, eine Kammer, in die ich mich zurückziehen kann, ein Lager, ein paar Kleider, keinen Hunger leiden zu müssen, keinen willkürlichen Strafen ausgesetzt zu sein. Das ist unendlich viel. Und doch..." Er zögerte, sah auf und blickte Nayla in die Augen. Die waren weit aufgerissen und von einer tiefen bodenlosen Traurigkeit.

„Und doch?" flüsterte sie.

„Ich bin für dieses Leben nicht geschaffen", sagte Silas tonlos.

„Was hat dir mein Bruder angetan?", fragte sie mit einer Mischung aus Sorge und Wut.

„Nichts", antwortete Silas beklommen, „oder zumindest fast nichts. Aber das ist nicht das Problem. Vor ihm zu stehen und ihm nach dem Mund zu reden, war viel schlimmer als alle Schläge, die ich jemals von ihm bekommen habe. Dieses Mal, Nayla, habe ich Anek zufrieden gestellt, aber ich habe meine Würde verloren."

Sie schwiegen beide. Der Raum war völlig still. Silas wusste nicht, ob die Sklavinnen und der Junge, der die Tür geöffnet hatte, noch da waren, und es kümmerte ihn auch nicht. Es gab für ihn in diesem Moment nichts als Naylas mitfühlende schwarze Augen und seinen eigenen Wunsch zu sterben. Dann stand Nayla auf. Sie kam auf ihn zu und hockte sich vor ihn hin. Sie nahm seine Hände in die ihren und hielt sie fest, als ob sie ihn damit daran hindern könnte fortzugehen. Silas fühlte sich ihr gegenüber schuldig und fürchtete zugleich, dass sie weinen würde.

„Das letzte Mal habt ihr mich geschlagen, als ich davon sprach", scherzte er, doch Nayla reagierte nicht. Nicht das kleinste Schmunzeln huschte über ihre Lippen.

„In drei Wochen ist er fort, Silas", sagte sie leise und fügte beinahe flehend hinzu: „Wenn du bis dahin bei meiner Tante bleiben würdest..."

„Darum geht es nicht", unterbrach sie Silas schroff. „Wenn er es nicht ist, dann ist es eben ein anderer. Solange ich ein Sklave bin, wird es immer einen Anek geben."

Naylas Augen waren ganz nah an den seinen. Es war ihm, als ob in diesen Augen alles zu finden sei, was ein Mann brauchte, um glücklich zu sein. Seine Hände fühlten sich in den ihren geborgen. In ihrer Nähe schienen ihm Freude, Freiheit und Leben mehr zu sein als ein Versprechen. Er meinte, endlich nach dem, wonach er sich sehnte, greifen zu können, wenn er sich nur von Nayla an der Hand nehmen und mit sich führen lassen würde. Und doch wusste er, dass er sich bloß einer Täuschung hingab. Dass Träume Träume bleiben und nicht wirklich werden, selbst wenn einer seinen ganzen Glauben und seine ganze Hoffnung aufbringen wollte. Er erinnerte sich an den kalten Boden, die vielen Stunden, die er sich gequält hatte, von der einen unerträglichen Position in die andere zu wechseln. Mehr als alles andere aber spürte er Schande und Scham. Er hörte Anek spotten. Seine zynischen Worte fühlten sich selbst jetzt noch wie kleine Stiche an, die eigenen Antworten versuchte er zu verdrängen. Nein, sagte er sich und wieder: Nein. Es gibt keine Zukunft.

„Einen besseren Tod als hier bei euch", meinte Silas schließlich und wunderte sich über seine eigene Ruhe, „gibt es nicht."

Nayla schloss die Augen. Sie presste die Lider aufeinander und Tränen quollen unter den dichten langen Wimpern hervor.

„Nein", stieß sie plötzlich unbeherrscht hervor, verstummte aber sofort wieder.

„Lasst mich sterben, Nebet", bat Silas vorsichtig. „Ich bin nur ein Stück Dreck unter euren Füßen."

Nayla ließ ihn los und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Sie zitterte und Silas wollte sie in die Arme nehmen. Doch er fühlte sich unwürdig. Auch wusste er nicht, wer sonst noch im Raum war, und wollte ihrem Ruf nicht schaden.

Während er noch überlegte, was er tun konnte, stand Nayla auf. Sie rief die Namen ihrer Sklavinnen, woraufhin diese aus einem Nebenraum herbeigeeilt kamen. Dann redete sie mit ihnen in einem sehr hastigen und sehr undeutlichen Demotisch, setzte sich wieder auf ihre Liege und ließ es zu, dass die Mädchen die Tränen von ihrem Gesicht abwischten, Puder auftrugen und ihr Haar kämmten.

Silas beobachtete das Geschehen, wagte es aber nicht, etwas zu sagen. Nach einer Weile schien Nayla zufrieden. Sie schickte die Mädchen weg, kam mit entschlossenen Schritten auf ihn zu und deutete ihm mitzukommen. Silas stand auf, verließ hinter ihr den Raum, folgte ihr in den Gang, die Treppen hinab und schließlich hinaus in die Dunkelheit. Dort wartete schon eine Sänfte auf sie und Nayla stieg ein. Sie winkte Silas zu sich. Er trat nahe an die Bahre heran und nahm die Fackel, die ihm ein anderer Sklave reichte. 

„Du bleibst hier bei mir", befahl sie in einem scharfen Ton und Silas war es, als würde sein Herz gefrieren. Mit einem Mal war nichts Weiches, nichts Freundliches mehr in ihrer Stimme, nur Härte und Distanz.

„Ja, Nebet", erwiderte er gehorsam, ganz so, als ob er mit ihrem Bruder sprechen würde. 

Dann brachen sie auf. Die Träger gingen schnell und auch die kleine Eskorte von vier Männern hielt mühelos mit ihnen Schritt. Die Nacht war sternenklar, die Luft angenehm frisch. Silas merkte gleich, dass die Straße, die sie nahmen, nicht zum Hafen führte. Unter anderen Umständen, wäre er neugierig gewesen und hätte sich darüber gefreut, in ein unbekanntes Viertel vorzudringen. Doch die Kälte, die von Nayla ausging, lähmte seine Gedanken und seine Wahrnehmung.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt