Distenes

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Lukanien, Winter 57

Wenige Tage, nachdem Jonathan die erste Nachricht von Herodes erhalten hatte, hieß ihn eine zweite, auf Hebräisch verfasste Botschaft, Rom mit dem Tross des Ptolemäus zu verlassen. Herodes hatte einen Boten in das Haus des Josephus geschickt, wobei er sich dieses Mal nicht mehr die Mühe gemacht hatte, das Wachstäfelchen zu kodieren. Entweder weil er davon ausging, dass es in Rom kaum jemanden gab, der Hebräisch sprach, geschweige denn zu lesen vermochte, oder weil er sich seiner Sache mittlerweile so sicher war, dass er es nicht für notwendig erachtete, besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

Tatsächlich war alles bestens vorbereitet. Da der Senat mit seiner Unterstützung für Ptolemäus noch zurückhaltend war, hatte Pompeius sein Geld, seine Soldaten und seine Sklaven eingesetzt, den König nach Alexandrien zu geleiten. Die erste Etappe der Reise musste aber auf dem Landweg zurückgelegt werden, denn eine Schifffahrt vom römischen Hafen aus hätte zu viel Aufsehen erregt. Nachdem Pompeius gerade seine Kandidatur für das Amt des Konsuls vorbereitete, wollte er es vermeiden, die Autorität des Senates offen in Frage zu stellen und damit eine Auseinandersetzung mit den Aristokraten zu riskieren. Dafür hatte er eine ganze Kohorte von Soldaten samt einer kleinen Reitereinheit abkommandiert, um den wichtigen Gast und seinen Hofstaat zu begleiten. Das offizielle Ziel war Capua, wo der König angeblich das Frühjahr und den Sommer verbringen wollte. Jonathan wusste jedoch, dass am Hafen von Tarentum bereits die notwendigen Schiffe für die Überfahrt nach Ägypten bereitstanden. Denn auch wenn Pompeius sich nicht auf den Senat berufen konnte, war er doch in einer Position, die es ihm erlaubte, eigenmächtig zu handeln, solange es ihm nur gelang, seine Gegner zu täuschen.

Anstatt die Via Appia zu nehmen, hatte sich der Tribun der römischen Kohorte für die Via Latina entschieden. Dadurch wurde zwar der Weg nach Capua etwas länger, doch auf der erst unlängst erbauten Straße herrschte wenig Verkehr, weshalb Claudius Lentulus, der bereits seit dem Krieg gegen Mithridates zum Offiziersstab des Pompeius zählte, hoffte, weitgehend unbeobachtet und damit letztlich schneller voranzukommen.

Alles in allem war die Reise auf der Via Latina nicht besonders beschwerlich. Trotzdem kam der Konvoi nur langsam voran. Dies lag zum einen an seiner Größe, zum anderen daran, dass es dem König gefiel, die Unterbrechungen, die sie bei Militärposten oder kleineren Siedlungen einlegten, unnötig in die Länge zu ziehen. Bei einem normalen Marschtempo wäre die Distanz zwischen Rom und Tarentum in etwa fünfzehn Tagen zu bewältigen gewesen. Das königliche Gefolge hatte es nach einem Monat allerdings nur bis Grumentum geschafft.

Die Stadt lag am rechten Ufer des Aciris auf einem an drei Seiten schroff abfallenden Hügel und war von massiven Mauern umgeben. Das eigentliche Leben spielte sich aber außerhalb der Einfriedung in den kleinen Siedlungen ab. Dort wohnten die Bauern, welche die angrenzenden Äcker bestellten. Im Vorbeigehen betrachtete Jonathan mit Interesse die weitläufigen Felder, auf denen Getreide wuchs und wo in eingezäunten Pferchen Herden von Ziegen, Schafen und Kühen weideten.

„So große Ackerflächen habe ich noch nie gesehen", sagte er zu Distenes, der neben ihm herging. Distenes war um einiges älter als Jonathan und diente dem ägyptischen König als Beamter. Seine eigentliche Aufgabe bestand darin, die Kommunikation zwischen Ptolemäus und den Diplomaten, die ihn auf seiner Reise nach Alexandrien begleiteten, aufrecht zu halten. Und da Jonathan gerade einer von diesen Männern war, wusste er nie genau, ob sich Distenes tatsächlich für ihn interessierte oder ob er sich nur deshalb mit ihm abgab, weil er es für seine Pflicht hielt.

Pflichtbewusstsein war nämlich jene Eigenschaft, die für Distenes in allererster Linie charakteristisch war. Überhaupt war sein ganzes Erscheinungsbild das von einem, der ganz und gar bemüht war, seinem Vorgesetzten zu entsprechen und sich in allem korrekt zu verhalten. Egal, wie lange sich der Marsch zog und wie staubig die Straßen waren, Distenes Kleidung war immer sauber und ordentlich, das Haar gekämmt und seine Haut wirkte, als ob er sich gerade erst gewaschen hätte. Seine Worte waren ausgewogen, sein Verhalten gemäßigt, ja er ließ sich weder in seinem Tun noch in seinem Reden zu etwas hinreißen, das seine Loyalität gegenüber dem König auch nur im Geringsten in Frage hätte stellen können.

Von daher hätte Distenes eigentlich ein reichlich langweiliger Gesprächspartner sein müssen. Doch er war äußerst gebildet und Jonathan hatte bisher noch keine Frage gefunden, zu der er nicht etwas Interessantes hätte beitragen können. Sogar über das Judentum wusste er bestens Bescheid, war er früher doch einmal selbst Proselyt gewesen. Warum es dann für die endgültige Eingliederung in das Bundesvolk nicht gereicht hatte, wusste Jonathan nicht, und es wäre ihm auch unpassend erschienen, Distenes danach zu fragen.

„Ich dachte, dass es derartige Felder nur in Ägypten gibt", meinte Jonathan und blieb dabei stehen, denn sein Esel hatte wieder einmal unerwartet angehalten. Am Anfang hatte er noch versucht, die Stute, die ihm sein Onkel Josephus mit auf die Reise gegeben hatte, mit der Gerte vorwärts zu treiben. Doch mittlerweile war Jonathan dazu übergegangen, sich den Launen des Esels anzupassen. Alles in allem war es ihm lieber, die eine oder andere unfreiwillige Pause einzulegen, als das Tier mit roher Gewalt zum Gehen zu bringen. Außerdem bot sich ihm dadurch die Gelegenheit, immer wieder ein Wegstück in der Gesellschaft von Menschen zurückzulegen, die er sonst nicht kennengelernt hätte. In seiner Funktion als Diplomat kam es Jonathan nämlich zu, gemeinsam mit den Hofbeamten zu marschieren, dank seiner Eselin fiel er im Lauf eines Tages aber so weit zurück, dass er sich bisweilen in der Gesellschaft von Metzgern, Künstlern oder Dirnen wiederfand, die gegen Ende des Trosses marschierten.

„In Ägypten sind die Felder noch größer und ertragreicher", antwortete Distenes, dem anzumerken war, dass es ihm lieber gewesen wäre weiterzugehen. „Doch hier in Lukanien haben wir es mit der Kornkammer Italiens zu tun."

Sie standen einander gegenüber und Jonathan fragte sich, was Distenes dazu bewog, einmal mehr gemeinsam mit ihm auszuharren und abzuwarten, wann sich die Eselstute wieder in Bewegung setzen würde. Vielleicht gibt sich Distenes doch nicht nur deshalb mit mir ab, weil er es für seine Pflicht hält, überlegte Jonathan und kraulte das Tier dabei gedankenverloren zwischen den Ohren. Das graubraune Fell war weich und, nachdem Jonathan die Eselin jeden Tag ausgiebig bürstete, auch nicht mehr so klebrig und verdreckt wie zu Beginn. Die kleinen dunklen Augen in dem massiven Schädel waren auf ihn gerichtet. Was für eine eigenartige Sanftmut so ein Tier an den Tag legen kann, sagte sich Jonathan, und zugleich doch immer nur tut, was ihm selbst gefällt. Dabei musste er an Tabitha denken und er war sich sicher, dass sie eine Möglichkeit finden würde, der Stute auch ohne Schläge Gehorsam beizubringen. Er seufzte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt