Vor mir türmten sich Mauern auf.
Mauern, die mich mein ganzes Leben lang begleitet hatten.
Mauern, die mich immer beschützen sollten.
Mauern, denen ich schon seit Ewigkeiten entfliehen wollte.Sie waren jeden einzelnen Tag da, boten immer eine unüberwindbare Blockade, trennten mich von der Außenwelt, dem richtigen Leben ab, auf welches ich schon seit ich denken konnte, vorbereitet wurde. Ich hätte es nie für möglich gehalten, eines Tages aus meiner eigenen, selbsternannten Hölle entkommen zu können, und doch saß ich nun hier, auf diesem samtigen, viel zu weichen Polster, lehnte mich in dem riesigen Sitz zurück, mit der Angst, in dem seidigen Stoff zu versinken.
Ganz realisieren konnte ich noch nicht, dass dieses elektrische, aus Blech und Kabeln kreierte Luxus-Gefährt tatsächlich mein lang ersehntes, unbezahlbar scheinendes Ticket in die Freiheit sein sollte. Es schien alles so surreal, so unmöglich wie ein Traum, aus welchem ich jeden Moment zu erwachen drohte. Doch dies war kein Traum, keine irrsinnige Kreation meines Unterbewusstseins. Das war die bittere, doch zugleich zuckersüße Realität, und allein durch diese Feststellung zauberte es mir ein breites Grinsen ins blasse Gesicht.Ich wurde aus meinen Gedanken, die gerade vor Freude wild Achterbahn fuhren, gerissen, als sich die schicke Metallbüchse samt mir und meinem griesgrämigen Vater in Bewegung setzte. Mein Nebensitzer, der seine langen, schlanken Finger auf seinem Schoss gebettet hatte, starrte stur gerade aus, die getönte, schwarze Sonnenbrille verdeckte seine karamellbraunen Augen, welche sonst immer das Funkeln eines gierigen Greifvogels aufwiesen. Wie nicht anders zu erwarten war, saß der dunkelgraue Anzug mit dem rauen, fremdartigen Stoff perfekt, und auch seine helle, kein bisschen zu seinem Gesicht passende Krawatte befand sich noch an Ort und Stelle.
Mein stets schick gekleideten Vater und ich, die schwarze, zerlöcherte Jeans und ebenso dunkle Oberteile bevorzugte, waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Während seine Augen geschmolzenem, goldgelbem Karamell verblüffend ähnelten, waren meine eigenen pechschwarz, ebenso wie meine schulterlangen Haare, welche sich hartnäckig zu unbändigen Locken kringelten, egal, wie ich dies versuchte zu verhindern. Diese Probleme hatte mein Vorgesetzter mit seiner in der Sonne glänzenden Glatze nicht, welche man allerdings nicht oft zu Gesicht bekam, da er sogar im beheizten, windgeschützten Haus pflegte, einen Hut jeglicher Art zur Schau zu stellen.„Bleib fokussiert, Saphira, du wirst es noch brauchen", durchschnitt die eisige, gefühllose Stimme eben dieses die angespannte Stille, und während manch einer vermutlich bei dem kühlen Ton heftig zusammengezuckt wäre, nickte ich nur mechanisch, ehe ich meinen Kopf wieder ruckartig in die Fahrtrichtung wendete.
„Du weißt, was du zu tun hast. Verhalte dich unauffällig, aber vernachlässige deine Pflicht nicht. Wenn ich auch nur ein schlechtes Wort über dich höre oder du dir einen Fehltritt erlaubst, könnte das alles beenden", fuhr er todernst fort, kein bisschen Sorge oder Angst schwang in seiner Stimme mit, nur diese wilde, immer präsente Entschlossenheit.
Wiederum quittierte ich dies mit einem einfachen, nichts bedeutenden Nicken, eine Geste, welche ich wohl öfter einsetzte als meine eigene Stimme.Doch es stimmte. Ich wusste genauestens, dass die urplötzliche Erlaubnis meines Vaters, tatsächlich Hogwarts besuchen zu dürfen, nicht willkürlich und ohne Hintergedanke getroffen wurde. Das tat er nie, viel zu sehr fürchtete er die Konsequenzen, welche dies mit sich ziehen konnte. Er wog die erhaltenen Fakten präzise ab, untersuchte jedes noch so kleine und unbedeutende Detail, bis er sich auf ein klares Ergebnis festlegen konnte. So war es schon immer gewesen, und so würde es auch für immer sein.
Die weitere Fahrt verlief schweigend, keiner hatte Interesse daran, die drückende Stille zu durchbrechen, nur, um eine belanglose Konversation über das Londoner Wetter zu führen. Ich war noch nie ein redseliger Mensch, ich vermied die mir möglichen sozialen Kontakte weitgehend, welche sich auf unsere alte Köchin Maria und den stillen Mister White, Vaters hauseigenen und komplett fehl am Platz wirkenden Butler, welcher ihn Tag ein, Tag aus, mit Bücherempfehlungen der feinsten Art quälte, begrenzten. Sonst wagte er es nie, auch nur ein einziges Wort von sich zu geben, lediglich in der Welt der Bücher, seiner eigenen, kleinen Leidenschaft zwang er sich dazu, den Mund aufzumachen, und dies auch nur in der Gegenwart seines Vorgesetzten.
Wie erleichtert ich doch war, endlich diese riesige, von Schutzblockaden umgebene Villa, welche eher ein Gefängnis für Sträflinge als ein wahres zu Hause für mich darstellte, wegzukommen. Natürlich, leichter würde es definitiv nicht werden, aber wenigstens war es mir möglich, eine Minute frei zu atmen, ohne den wachsamen Augen meines Vaters ausgesetzt zu sein.
„Wir sind am Ziel angelangt. Bahnhof King's Cross. Denk an meine Worte, wir werden uns bald wieder sehen", ratterte mein Vater herunter, als hätte er es vorher sorgfältig in seiner kleinen, verschnörkelten Schrift verfasst und nun, für diesen wichtigen Anlass der Verabschiedung, fein säuberlich auswendig gelernt.
Kaum hörbar atmete ich aus, ehe ich abermals den Kopf sachte von oben nach unten wog und die Tür zu meiner rechten mit einem energischen Schubs von mir schleuderte. Meinen nagelneuen, meerblauen Koffer mit einem bunt geringelten Namensschild, auf welchem in dicken Lettern der Name ‚Saphira Carter' prangte, schnappte ich mir im Vorbeigehen aus dem elektrisch betriebenen Kofferraum, ehe ich mit über die Schulter geworfenen, unregelmäßig gelockten Haaren, davon stolzierte, wie ein berühmtes Model aus einem der Programme, die ich tatsächlich in meiner Freizeit begutachten durfte. Nur noch einen kurzen Moment, eine Millisekunde, wandte ich meinen Blick zurück zu dem dunklen, in der Sonne funkelnden Gefährt, doch dieses war schon längst um die nächstbeste Ecke zwischen weiteren, unzufrieden brummenden Maschinen verschwunden und nun nur noch ein schwarz lackierter Punkt in der Ferne.
Enttäuscht seufzte ich auf, obwohl ich diese abweisende Reaktion eigentlich bereits erwartete. Mein Vater war kein Mann der großen Worte, und die Ausdrücke „Gefühl" und „Liebe" waren vermutlich nicht einmal in seinem sonst so allumfassenden Wortschatz vorhanden.Die matten Plastikrollen des dunkelblauen Koffers ratterten hingegen fröhlich und voller Energie über den mit Steinplatten ausgelegten Boden, und bei jedem passieren von einem der hellgrauen Ebenen, gab das nervende Gepäckstück ein lautes Klacken von sich.
Mein Blick wanderte suchend durch die Menge an Menschen, die sich wild auf dem überfüllten Bahnsteig tummelten. Laut schreiende Kinder wurden unbedacht hinter gestressten Erwachsenen hergeschliffen, Leute drängten sich rücksichtslos in bereits zum Platzen angefüllte Abteile, wieder andere hatten sich mit griesgrämiger Miene einen Platz am Rande gesucht und beobachteten das ohrenbetäubende Treiben mit ausdrucksloser Miene, wie, als würden sie an den kleinen Unglücken und Missgeschicken der Umstehenden erfreuen.Eilig schüttelte ich meinen Kopf und fokussierte mich wieder darauf, warum ich eigentlich hier war. Die Zugfahrt vom berüchtigten Gleis 9 3/4. Ein wohliges Kribbeln stieg leicht wie der Wind in meinem Bauch auf, schlich sich mit einer unglaublichen Wucht in meine Fingerspitzen, um anschließend wieder in meine Magengegend zurückzukehren. Ein ausgelassenes Lächeln schlich sich auf meine trockenen Lippen, es war das erste Mal seit langem, dass ich so lachte, und zudem war es ein echtes Grinsen, vermutlich so wahr und ungespielt wie noch nie.
Ich durfte nach Hogwarts. Ich durfte diese magische Schule meiner Träume aufsuchen, meine größten Fantasien erfüllten sich von den einen Moment auf den anderen, es war, als wäre das unvermeidliche und bittere Schicksal nun endlich, nach all den Jahren voller Anstrengung und Einsamkeit, auf meiner Seite. Und ich würde diese einmalige, rosige Chance, sicher nicht missbrauchen. Ich werde es schaffen, mich beweisen, und endlich frei sein. Frei von der Last der untragbaren Verantwortung, frei von unglaublichen Sorgen, frei von diesen erdrückenden Mauern, die mich daran hinderten zu leben.
Mein freudiges Grinsen wurde, wenn dies überhaupt möglich war, nur noch breiter. Ich würde das schon schaffen, so schwer konnte es schließlich nicht sein, auf einen halb ausgewachsenen Jungen aufzupassen, der dazu auch noch weltbekannt und berühmt war. Es war meine Chance, einmalig, klitzeklein, aber mein rettendes Seil, welches mich in die reale Welt beförderte. Und soeben, auf den letzten Metern des ermüdenden Fluges, würde ich sicherlich nicht loslassen und zurück in den steinernen Käfig fallen. Niemals.
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Fire Eyes (Harry Potter ff)
Fiksi PenggemarDie Macht des Feuers ist unerbittlich. Einmal entflammt, kann keiner sie mehr aufhalten, sie schleicht sich in jedes Haus, jeden Wald, jede Stadt, und hinterlässt lediglich Kohle und Asche. In jedem von uns steckt ein wenig Feuer, sei es nur eine wi...