Kapitel 21

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Wir sitzen dicht nebeneinander.
Die Zweisamkeit und das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter baut sich langsam wieder auf und ein wohliges Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus.
Mir war gar nicht klar, wie sehr ich Mom vermisst habe.
Denn ihre Erzählungen und Erklärungen in der letzten halbe Stunde haben mir die Augen geöffnet.

( Eine halbe Stunde zuvor )

Alle Spuren meiner Beziehung zu diesem Ort sind Stück für Stück beseitigt worden.
Enttäuscht drehe ich mich wieder zu meiner Mutter um.
„Das tut mir leid, dass dir an einem solchen Ort Derartiges widerfahren ist."
Sie setzt sich auf einen kleinen Baumstamm und legt den Kopf in die Hände, die Ellenbogen auf den Knien abgestützt.
Sie schaut so traurig drein, dass ich schnell das Thema wechsele.
„Okay, dann erzähl mal bitte. Wieso seid ihr denn jetzt vor 5 Jahren einfach abgehauen?", frage ich und kann einen scharfen Unterton in der Stimme nicht vermeiden.
Mom seufzt.
„Da muss ich dann wohl ganz vorne anfangen.", murmelt sie und atmet einmal tief durch.
Und dann breitet sie die Vergangenheit vor mir aus.
„Dein Vater und ich haben von einer Firma in Mexico gute Jobangebote bekommen. Hätte ich den Brief, der an mich gerichtet war, nicht in seiner Schreibtischschublade gefunden, hätte ich davon wahrscheinlich erst viel später erfahren."
Mom schluckt hörbar und starrt auf den Boden.
Ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
Die beiden haben einfach so neue Jobs angenommen?!
Das habe ich gar nicht gewusst.
Meine Augen verengen sich.
„Wieso bist du dann mitgegangen?", zische ich, „Ich war schließlich noch minderjährig zu dem Zeitpunkt!"
„Weil wir das Geld wirklich gut gebrauchen konnten. Außerdem wollten wir es auch mal weiterbringen im Leben. Es hat nicht mal eben so jeder die Chance, mit dem Job noch einmal richtig durchzustarten. Und da du mir klip und klar erklärt hast, dass du nicht von hier weg möchtest und auch oft genug behauptet hast, dass du dein Leben gut alleine auf die Reihe bekommst, bin ich mit Elias gegangen."
Sowas hab ich gesagt?
Da kann ich mich gar nicht mehr wirklich dran erinnern...
„Ich musste ein ganzes Jahr lang bei meinem bekloppten Großonkel wohnen! Wisst ihr eigentlich, was ihr mir damit angetan habt?!"
Ich bin fassungslos.
„Addison, nimm es mir bitte nicht übel, aber du warst auch wirklich nicht einfach zu der Zeit.", meint Mom und sieht mich vorwurfsvoll an.
„Wer war hier anstrengend?! Ihr ja wohl!", donnere ich und hätte bestimmt ein paar in meinen Augen treffende Argumente auf der Zunge gehabt, doch Mom legt mir ihre Hand auf den Oberschenkel.
„Du hast mir eine gepfefferte Mail geschickt, in der du ausdrücklich erklärt hast, dass du nichts mehr von uns hören willst. Und du hast auch unsere Mails nicht mehr gelesen, also haben wir uns schließlich nicht mehr gemeldet.", entgegnet sie, „Aber jetzt überleg doch mal. Du hast dir hier deine eigene kleine Welt aufgebaut. Du hast das Haus gut übernommen und schick umgestaltet. Du bist zu einer tollen und selbstbewussten jungen Frau herangewachsen, die eigenständig durchs Leben geht. Du hast doch alles wunderbar gemeistert, ohne uns."
Sie streicht mir eine lose Strähne hinter das Ohr.
Ich muss schlucken.
An die Mail konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, doch nun sehe ich den Text, den ich verfasst habe, vor meinem inneren Auge vorbeifliegen.
Beschuldigungen, Beleidigungen, Verfluchungen...
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals.
Was hab ich bloß getan?
Und was war dann das andere, was sie gesagt hat?
Solch liebe Worte habe ich noch nie aus dem Mund einer anderen Person gehört.
Ich umarme Mom.
„Danke, dass du mir verzeihst.", sage ich aufrichtig.
„Das habe ich vermisst. Ich habe dich vermisst.", flüstert sie in mein Haar und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel.
Ich auch.
„Soll ich dir eigentlich mal erzählen, wer dich gerettet hat?", wechselt sie dann geschickt das Thema.
Ich wische mir eine kleine Träne ab und nicke gespannt.
Meine Mutter zieht ihr Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche, tippt kurz darauf herum und dreht es dann so, dass ich mit auf den Bildschirm gucken kann.
Das Bild in der Mitte zeigt eine Gestalt, mit der ich am allerwenigsten gerechnet habe.
Schlaue Katze rettet Besitzerin aus Lawine steht in großen Buchstaben darunter geschrieben.
Der Artikel entstammt der örtlichen Zeitung, das erkenne ich sofort.
Ich entreiße Mom das Handy und lese mit zitternden Fingern den Artikel.
„Flora war das?", frage ich ungläubig nach, obwohl im Artikel ihr Name mehrmals erwähnt wurde.
„Sie ist unglaublich clever, fast menschlich. Es war schon echt verblüffend für mich, wenn die Kleine mich mit ihren intensiven Augen angeschaut hat. Sie hat so etwas Wissendes im Blick.", bestätigt meine Mutter und nimmt das Handy wieder entgegen.
Ja, da hat sie recht.
Meine Katze ist etwas ganz besonderes.

„Und was hast du heute noch vor?", fragt sie mich und erhebt sich vom Baumstamm.
Die Röte steigt mir ins Gesicht.
„Ich gehe auf ein Konzert.", gestehe ich ihr und muss unweigerlich lächeln.
„Von wem das denn?", fragt Mom verwundert.
Wir setzen uns wieder in Bewegung und treten den Heimweg an.
„Nikola."
Sie bleibt stehen und schaut mich an.
„Der Typ aus dem Krankenhaus? Der, mit dem du dich immer so gezofft hast?"
Beschämt nicke ich.
„Er spielt Geige in einer Klassikband und sie treten heute im Gemeindehaus auf. Er hat mir eine Visitenkarte gegeben und ich habe mir darauf hin ein Ticket gebucht.", erkläre ich.
Mom nickt grinsend.
„Du magst ihn doch." stellt sie fest und das Grinsen wird noch breiter.
Ich zucke mit den Schultern.
Doch in meinem Innersten weiß ich, dass sie recht hat.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt