Kapitel 22

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Es kommt mir vor wie ein Déjà-vu.
Als ich den Lippenstift ansetze, fühle ich mich sofort an das Badezimmer am Flughafen von Hawaii erinnert.
Erstaunlich, wie ich sowas träumen konnte, obwohl ich noch nie selber dort anwesend war...
Ich flechte mir je einen kleinen Zopf auf jeder Seite und binde sie am Hinterkopf zusammen.
Die schulterfreie Bluse betont meine Figur, die schwarze Jeans sitzt eng anliegend.
Mit zittrigen Fingern trage ich zuletzt noch Wimperntusche auf.
Dann verlasse ich das Bad, nehme meine Handtasche auf den Schoß und will mir gerade die Jacke anziehen, da erscheint Mom im Türrahmen des Gästezimmers.
„Soll ich dich hinbringen?", fragt sie und klimpert mit meinen Autoschlüsseln, die an ihrem Zeigefinger baumeln.
Klar, selber fahren kann ich natürlich nicht...
„Das wäre sehr nett.", erwidere ich lächelnd.
Im Rollstuhl würde ich garantiert viel zu spät kommen und den Einlass verpassen.
Also setze ich mich auf den Beifahrersitz, während Mom meinen Rollstuhl im Kofferraum verstaut.

„Okay, danke, hier kannst du mich rauslassen."
Dann kann ich das letzte Stück noch alleine zurücklegen.
Mom widerspricht nicht und hilft mir in den Rollstuhl.
Sie gibt mir noch einen luftigen Kuss aufs Haar, dann steigt die wieder ein, wendet das Auto und ihre Rücklichter verschwinden in der Dunkelheit.
Schmunzelnd erinnere ich mich an meine Jugend, wo Mom oder Dad mich, genau wie nun, an dem Ort der jeweiligen Party abgesetzt haben.
Damals habe ich dies als lästig und peinlich empfunden, doch nun im Nachhinein schätze ich dies sehr.
Ich lege die letzten Meter bis zum Gemeindehaus zurück und zeige am Einlass mein Ticket vor.
Mir werden neugierige Blicke zugeworfen, doch ich versuche sie auszublenden.
Dies ist nun mal jetzt mein Leben.
Der Saal ist herrlich zeitlos eingerichtet.
Die Bühne schmücken große und kleine Kerzen.
Das ganze Etablissement wirkt romantisch und beruhigend und ich bin sehr gespannt auf die Performance der Musikanten.
Nachdem mir mein Platz zugewiesen wurde, wofür extra ein paar Stühle zur Seite gerückt werden mussten, werden Drinks verteilt.
Ich bin begeistert, wie toll alles organisiert wurde, und lasse mir einen Sekt einschenken.
Einige Zeit später erlischt langsam das Licht und die fünf Musikanten betreten unter lautem Applaus die Bühne.
Der Saal ist voll besetzt und alle jubeln den Musikern zu.
Drei junge Frauen in schwarzen Blazer schreiten vor zwei jungen Männern in ebenfalls schwarzen Fracks vorweg.
Jeder ordnet sich seinem oder ihrem Instrument zu.
Stille kehrt ein und einer der Männer beginnt auf einem glänzenden Flügel eine liebliche Melodie aus hohen Tönen zu spielen.
Leise setzt ein Violoncello ein.
Dann erklingt eine melodische Geige.
Ein Raunen geht durch die Reihen.
Und mir stockt der Atem.
Nikolas Gesicht wird vom Kerzenschein sanft erleuchtet.
Wie beim Proben im Krankenhausmusiksaal auch hat er die Augen geschlossen.
Er ist ganz in seine Melodie, in seinen Einsatz, vertieft.

Als das vierte Stück sanft ausklingt und die Scheinwerfer wieder aufleuchten, erwacht das Publikum langsam aus der Trance, die sich einheitlich über die Ränge gelegt hat.
Der liebliche Gesang, das dunkle Violoncello, die leichten Klänge des Pianos, das akustische Saxophon und die lebendige Geige haben alle in ihren Bann gezogen.
Die fünf jungen Musiker haben hervorragende Arbeit geleistet.
Und es ist noch nicht zu Ende.
„Nach einer kurzen Pause geht es weiter.", verkündet die Sängerin, wird aber sofort von tosendem Applaus unterbrochen.
Die Musikanten verbeugen sich zu allen Seiten.
Ich beobachte Nikola und fahre vor Schreck zusammen.
Ich sitze zwar weit hinten, doch im hellen Scheinwerferlicht sind die Blässe und der Schweiß auf seiner Stirn nicht zu übersehen.
Die Haare kleben ihm im Gesicht und er atmet schwer.
Er sagt etwas zu seinem Pianisten-Kollegen und torkelt von der Bühne.
Besorgt und ungeduldig warte ich, bis auch die anderen Musiker den Saal verlassen haben, dann löse ich meine Bremsen und rolle nach draußen.
Mit der Ausrede Mal kurz frische Luft schnappen zu müssen stehle ich mich hinter das Gemeindehaus.
Als die Abendluft mich empfängt, fröstele ich augenblicklich, denn mein Mantel hängt, wie alle anderen Jacken auch, an der Garderobe im Vorraum des hergerichteten Saals.
Ich rolle gerade um die nächste Ecke, da wird die Hintertür aufgestoßen und Nikola wankt heraus.
Er stützt sich an der Hauswand ab.
Seine Augenlider flackern.
Mein Puls beginnt zu rasen.
Hat er Drogen genommen?
Ist er alkoholisiert?
Plötzlich sacken die Beine unter ihm weg und er schlägt der Länge nach auf dem Boden auf.
Dort bleibt er regungslos liegen.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt