Emotionen

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Völlig ausgelaugt ließ ich mich auf das flauschige, mit winzigen Quadraten übersäte Polster fallen, gefolgt von einem tiefen Seufzen. Erschöpft strich ich mir eine der gelockten Strähnen aus dem Gesicht, ließ es jedoch nach einigen erfolglosen Versuchen bleiben. Die knallrote Dampflok war bis zum Anschlag gefüllt mit Unmengen an Schülern und Schülerinnen. Sie wuselten wie eingesperrte Mäuse herum, zogen einander immer wieder in die Arme und beteuerten, wie sehr sie sich doch über die Anwesenheit der jeweils anderen freute. Das jetzt noch totenstille Abteil, welches ich als meines erkoren hatte, würde sicher auch nicht verschont werden.

Wiederum seufzte ich, und war mir im selben Moment unsicher, worüber ich mich so aufregte. War nicht genau das, dieses bunte, volle und laute Leben das, was ich mir immer gewünscht hatte? Dieses Leben mit echten Freunden, die mich in jeder Situation bedingungslos unterstützten, mich nicht für jeden kleinen Fehler verurteilten? Genau dies, diese Erlebnisse, diese Erfahrungen konnte ich nun haben, doch tief in meinem Inneren schrie etwas und schlug mit voller Wucht um sich? War das etwa die Angst, die da in mir aufkeimte? Oder war es doch blanke Nervosität, welche allmählich jede Faser meines Körpers ausfüllte?

Ein wildes Winken direkt vor meinem Gesicht riss mich wie eine Flutwelle aus meinen düsteren Gedanken und schleuderte mich mit einem energischen Ruck wieder zurück in die wahrhaftige Realität. Vor mir hatte sich, wie aus dem Boden gewachsen, ein mir unbekanntes Mädchen mit flammend rotem Haar gekniet. Ihre Augen leuchteten in einem warmen Hellbraun, während ihre blassen Wangen von fröhlichen Sommersprossen bedeckt wurden.
„Hm?", gab ich abwesend von mir, es glich eher einem genervten Flüstern, und doch schlich sich ein Grinsen auf die rosigen Lippen der Rothaarigen.
„Ist hier noch ein Platz frei? Wir klappern gerade den Zug ab, und bisher hatten wir leider kein Glück", brachte sie ihr Anliegen mit einem flehentlichen Blick vor, man sah ihr deutlich an, dass sie auf eine weitere Durchforstung nicht scharf war.
Okay, nun war anscheinend meine Zeit gekommen, endlich meine nicht vorhandenen, sozialen Kenntnisse auszupacken. Und vielleicht endlich etwas wie Freunde finden zu können.
„Klar", murmelte ich also in mich hinein, ehe ich mich gemächlich von dem meerblauen Sitz zu erheben und meinen ebenso ozeanfarbenen Koffer auf die eigentlich dafür vorgesehene Fläche zu wuchten.

„Ich heiße übrigens Ginny Weasley, und das hier drüben ist Luna Lovegood", ihre Hand schnellte in Sekundenschnelle zu einem weiteren Mädchen, welche mir bis gerade noch gar nicht aufgefallen war. Ruhig hatte sie sich auf eines der Polster fallen lassen, ihr aschblondes Haar fiel ihr in unordentlichen Wellen über die Schultern, die silbergrauen Augen starr auf ein mir unbekanntes Magazin gerichtet. Ihre Haut schien in dem sowieso schon schummrigen Licht unheimlich blass und doch erweckte sie den Eindruck, als wäre sie soeben aus einem tiefen Schlaf voller wunderbarer Träume erwacht.

„Hallo", gab sie in einem ebenso verträumten Ton auf sich, ihre silbernen Augen wanderten direkt zu meinem Gesicht.
„Hey, ich bin Saphira Carter", bequemte ich mich dazu, mich ebenfalls vor den beiden vorzustellen, ehe ich meinen Blick abermals abwandte und eines der dicken Bücher, welche allesamt fein säuberlich von Mister White ausgewählt wurden, hervorzog.
„Augenstern der Magie- Fluch oder Segen?" War in riesigen verschnörkelten Lettern darauf abgebildet, die wild verworrenen Buchstaben rankten sich bunt und wie es ihnen lieb war über den blutroten Hintergrund.
„Was liest du denn da? Irgendwelche Empfehlungen?", riss mich die warme Stimme Ginnys wieder in die Wirklichkeit, ein leichtes Schmunzeln hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet.
„Ehrlich gesagt, keine Ahnung, ein Bekannter hat es mir weitergegeben", zuckte ich ahnungslos mit den Schultern und vergaß dabei komplett, dass wir uns gerade erst getroffen hatten.
„Zeig mal her", ließ sich die Rothaarige motiviert neben mich plumpsen und riss mir das Bündel aus vergilbtem Papier ohne Umschweife aus der Hand.

„Das sieht echt alt aus", murmelte sie leise während ihrer Inspektion vor sich hin, und ich konnte ihr da nur zustimmen.
Die schon gelblichen Seiten wurden an den Enden immer dunkler, die Schrift galt genauso wie außen eher einem verschlüsselten Code als einer stinknormalen Handschrift, an manchen Stellen fehle eine der unzähligen Seiten. Ein gewöhnliches Buch zum Lesen, wann immer es einem recht war, war dies definitiv nicht.

Als auf der folgenden Seite eine grelle Zeichnung auftauchte, machte es endlich auch bei mir Klick. Mit einigen hastigen Handbewegungen, riss ich das Buch erneut an mich und ließ den Einband mit einem leisen ‚Wumps' zuklappen.
„Ein Familienerbstück. Ist mir gerade wieder in den Sinn gekommen", schlug ich mir scheinheilig gegen die Stirn, ehe ein ungewöhnlich hohes Kichern meinen Mund verließ.
„Ach so, na dann", antwortete Ginny verblüfft, und auch, wenn sie ein warmes Lächeln aufsetzte, sah ich es hinter ihrer Stirn bereits laut rattern.

Doch vermutlich würde sie niemals annehmen, welcher Schatz ihr da in die Hände geraten war. Es war nicht irgendein Buch, nicht irgendein uralter Wälzer. Dieses zunächst fast schon langweilige Geheft aus vergilbten Papier und verschlungener Schrift war das Buch der Wächter, wie mein Vater es liebevoll getauft hatte. Schon seit Jahrhunderten, ja, wenn nicht Jahrtausenden, lag es in unserem Familienbesitz und wurde dann, wenn der derzeitige Besitzer es für richtig hielt, an die nächste Generation weitergereicht. Und anscheinend war nun, nach etlichen Stunden an Arbeit und Schweiß, der richtige, langersehnte Moment gekommen.

„Schöner Name, Saphira. Sehr verwunschen. Hat er irgendeine Bedeutung?", warf Ginny in den Raum, ihr Blick ruhte wie eine schwere Last auf meinen Schultern.
Sie war definitiv ein schlauer Kopf, ich sollte sie nicht unterschätzen.
„Ich weiß es nicht genau, um ehrlich zu sein", gab ich also nur mit einem ahnungslosen Zucken der Schultern zurück, auch, wenn mir die Bedeutung des Namens sehr wohl bekannt war.

Die Göttin des Feuers.

Ich hasste meinen Namen. Ich hasste ihn aus tiefster Seele, mit jeder Faser meines Körpers, mit jeder Sekunde, die während meines kläglichen Daseins verstrich. Das Feuer?
War dies wirklich alles, wofür ich stand? War meine außergewöhnliche Gabe der Sinn meines eintönigen Lebens? Machte mich nicht auch noch etwas anderes aus, etwas Menschliches, oder war es wirklich nur dieses wilde Feuer in meinem Inneren, welches bedeutend war?

Ich wusste es nicht. Ich wusste es nicht, und es machte mich verrückt. Diese Unwissenheit, die sich schon seit meiner Geburt in mich hineinfraß, ließ mein Blut immer wieder aufs neue wild kochen.

Schon seit ich denken konnte, wurde ich auf meine Aufgabe vorbereitet, eine Kindheit voller Spaß und Unbeschwertheit hatte es für mich nie gegeben. Da war nur immer diese unglaubliche Macht, die in jeder einzelnen Sekunde Vordergrund stand.

Ich war anfangs nur eine Art Monster, eine Bedrohung für jeden, der sich in meine lebensbedrohliche Nähe wagte. Ein falscher Satz, ja gar ein falsches Wort könnte den Tod für mein Gegenüber bedeuten. Ich hatte keine meiner Emotionen unter Kontrolle, es war wie ein unbändiger Strudel aus Gefühlen, die mit so einer Wucht auf mich einströmten, dass ich sie in keiner Weise sortieren konnte. Sie überrollten mich wie ein tödlicher Tsunami, rissen mich schmerzhaft mit sich. Mein sonst so glasklarer Verstand war wie betäubt, mein Wille wurde an die andere Seite in mir, an das flackernde Feuer übergeben, die alles erbarmungslos zu Seinesgleichen verwandelte.

Nun, Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal die Kontrolle verloren hatte, war ich reifer geworden, hatte gelernt, meine unbändig scheinenden Emotionen unter strengen Verschluss zu halten. Und doch, tief in mir schlummerte immer noch dieses verbitterte Monster und wartete nur darauf, bis es endlich aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wurde.       

Fire Eyes (Harry Potter ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt