Kapitel 1

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Maya

Jetzt ….

Mein Zuhause war bis vor kurzem die ganze Welt für mich gewesen. Eine Zuflucht, Gefängnis und ein goldener Käfig. Doch auf einen Schlag ist nichts mehr, wie es einmal war. Mit dem Tod unserer Eltern hat sich alles verändert. Während die Schreckensherrschaft meines Bruders begann, wurde mein persönlicher Albtraum wahr. Ganz Puerto Rico betrauert den Verlust eines seiner mächtigsten Männer, nur Emilio nicht. Er feiert. Immerzu stelle ich mir die Frage, ob ich aus dem Käfig ausbrechen kann. Jetzt, da es nur noch ihn und mich gibt.

Mit den Füßen wippe ich kaum merklich vor und zurück. Mein Blick wandert durch das Arbeitszimmer meines Vaters, das nicht mehr wiederzuerkennen ist. Die edlen Mahagonimöbel wurden durch schwarze Ungetüme ausgetauscht. Es tat mir im Herzen weh, dabei zusehen zu müssen, wie Emilio alles fortschaffen ließ. Die Bilder an den Wänden wurden abgenommen und selbst das Bücherregal steht nicht mehr neben dem dunkelbraunen Sofa. Als Kind liebte ich es, mich in das Leder zu kuscheln, ein Buch zu lesen und meinen Vater bei der Arbeit zu beobachten.

Erinnerungen sind alles, was mir bleibt.

Stück für Stück wird alles, was mir etwas bedeutet, zerstört. Meine Eltern waren nur der Anfang. Die Möbel haben sentimentalen Wert und die Bücher kann man ersetzen. Menschen nicht. Dennoch schmerzt es, die vertraute Umgebung verschwinden zu sehen. Eine düstere Vorahnung hat mich ergriffen, kaum dass ich ins Arbeitszimmer zitiert wurde. Nur langsam ringe ich mich dazu durch, meine Aufmerksamkeit wieder auf die Mitte des Raumes zu lenken. Ich muss es mir ansehen, sonst wird er mich auf anderem Weg zwingen.

»Mi hija … bitte. Du musst mir glauben.«

Der Mann, der wie ein Häufchen Elend auf dem Boden kauert, faltet die Hände vor seinem Gesicht zusammen und sieht mich flehend an. Mit den Fingerspitzen massiere ich meine Schläfen, denn ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll. Das schwarze Haar hängt ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht, die Haut wirkt fahl und von seiner einst stolzen Haltung ist nichts mehr übrig. Was haben die Tage im Verlies nur aus ihm gemacht?

»Deine Lügen werden dir nicht weiterhelfen, Miguel. Die Wahrheit liegt auf der Hand und deine traurigen Ausflüchte sind erbärmlich. Du hintergehst mich und glaubst, dass ich dich dafür davonkommen lasse? Hältst du mich für dumm? Dachtest du wirklich, ich durchschaue deinen armseligen Plan nicht?« Die finstere Stimme meines Bruders hallt drohend von den Wänden des Arbeitszimmers wider, während er den Lauf der Pistole in Miguels Nacken drückt. »Maya kann dir nicht helfen. Du kannst beten, du kannst flehen und du kannst ihr weiterhin deine Lügenmärchen erzählen. Sie kann nichts für dich tun.«

Ein eiskalter Schauer jagt mir über den Rücken, trotz der Schwüle, die durch das geöffnete Fenster hereindrückt. Ich unterdrücke mühevoll das Frösteln und versuche weiterhin, keine Regung zu zeigen.

»Wie konntest du nur? Du hast uns verraten und zugelassen, dass unsere Eltern feige ermordet wurden. Wieso, Miguel?«, frage ich mit zitternder Stimme. Trotz allem schaffe ich es, dieses Schauspiel aufrechtzuerhalten.

»Maya, ich habe nichts damit zu tun. Du musst mir glauben«, beteuert er.

Der Blick aus seinen braunen Augen liegt eindringlich auf mir, was mich schlucken lässt. Noch vor einer Woche war Miguel der engste Vertraute meines Vaters gewesen, die rechte Hand, sein bester Mann und gleichzeitig wie ein Onkel für mich. Und was ist er jetzt? Dem Tode geweiht, weil mein Bruder ihn für einen Verräter hält. Emilio hebt missbilligend seine linke Augenbraue, holt aus und schlägt den Knauf der Pistole gegen Miguels Hinterkopf. Keuchend fällt er nach vorne, krümmt sich und schlingt schützend die Arme um seinen Kopf. Fest presse ich meine Lippen aufeinander und balle im Rücken die Hände zu Fäusten. Ich wünschte, ich könnte etwas für ihn tun, aber ich bin genauso machtlos wie er. Wenn nicht sogar noch hilfloser.

Tainted Darkness - Ace (Leseprobe) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt