5. Paul

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Plötzlicher Szenenwechsel, wie im Film. Von gerade noch im Bus sitzend zu auf der Straße stehend und dem Bus hinterher sehend. Aber das dazwischen fehlt. Ist nicht in meiner Erinnerung. Wie in Trance überquere ich die Straße. Dieselben Beine, die sich vorher nicht bewegen wollten, gehen jetzt von ganz alleine. Immer weiter in die Richtung, von der ich denke, es ist die Richtige.

In einiger Entfernung sehe ich eine blonde Gestalt auf mich zulaufen und hektisch winken. Irritiert blicke ich nach hinten, um zu sehen, ob da noch jemand ist. Nein, die Person meint mich. Das ist der Moment, an dem ich aus meinem Dunst aufwache und in die Realität zurückschnappe.

Das muss er sein, Paul. Er verlangsamt seine Schritte und ich gehe weiter auf ihn zu. Erleichterung durchflutet mich und lässt mich wieder Atmen. Ich habe nicht bemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte. Paul sieht so aus wie auf den Bildern und auch irgendwie nicht. Ehrlich gesagt, sieht er aus dieser Entfernung sogar noch besser aus. Paul ist einen Kopf kleiner als ich, schmächtig und unnatürlich braun für diese Jahreszeit. Freundlich lächelnd kommt er auf mich zu. Er hat ein tolles Lächeln, ein bisschen frech, wie ich finde. Sein Gesicht ist sehr jungenhaft, ich kann keinerlei Bartwuchs erahnen und seine blondierten Haare stehen steil nach oben. Auf meinem Gesicht macht sich ein warmes Lächeln breit, teils aus Erleichterung, teils aus Überraschung.

„Hey, Niklas?", ruft er mir außer Atem entgegen. Es klingt ein bisschen nach der Frage, ob ich es wirklich bin.

„Hi, Paul!", bei mir ist es eine Feststellung. Schnell schließe ich zu ihm auf.

„Tut mir leid, die Suche nach einem Parkplatz hat etwas gedauert. Ich wollte schon an der Haltestelle auf dich warten." Paul streckt mir seine Hand entgegen und ich erwidere die Geste. Seine Hände sind so klein gegen meine Pranken. „Aua! Mach nichts kaputt, die brauch ich noch."

Mist, ich bin so nervös, dass ich seine Hand, regelrecht gematscht habe. „Entschuldige bitte."

Er schüttelt seine Hand, aber grinst verschmitzt zu mir rauf. „Ich werde es überleben, denke ich. Komm wir müssen hier lang, wenn wir aus dieser Kälte raus wollen."

Wir drehen uns in die besagte Richtung, laufen los und ich runzle fragend die Stirn. Was denn für eine Kälte? Ich war so auf ihn und die Situation fokussiert, dass ich den kalten Wind nicht gespürt habe. Noch habe ich irgendetwas anderes bemerkt, in einem Tunnel aus Emotionen. Dadurch das er dieses kleine Detail erwähnt hat, brechen die Eindrücke jetzt geballt auf mich herein. Vom Lärm der vorbeifahrenden Autos, über den Wolken verhangenen Himmel bis hin zu der für mich viel zu flachen Landschaft.

Das hier scheint so was wie der Ortsmittelpunkt zu ein. Der Boden ist mit Kopfsteinpflaster belegt, vor uns plätschert ein größerer Brunnen, um den Bänke stehen. Die Häuser um den Platz beherbergen in den unteren Etagen Geschäfte mit Zeitungen, Andenken, Bäcker und Kaffees. Vorsichtig schiele ich zu ihm rüber. Der weiße Kapuzenpulli ist ein bisschen zu groß, aber sieht an ihm nicht blöd aus, eher gemütlich. Er bringt seine gebräunte Haut noch besser hervor. Am Hals hat er mehrere dieser bunten Perlenketten, die man ganz eng trägt und seine ausgewaschene Jeans sitzt so perfekt, dass ich keine Fantasie brauche, um zu wissen, was darunter steckt. Knackig!

Er sieht gut aus aber nicht wie 20, eher jünger. Vielleicht denke ich das auch nur wegen seiner Größe oder weil er so zart aussieht in dem Pulli. Ich muss ihn unbedingt fragen, ob er gerade erst im Urlaub war oder besser gesagt, wo er die Bräune her hat. Warum mich das so beschäftigt, keine Ahnung!

Paul leitet mich in das besagte Café. Schon beim Betreten strömt uns der süße Geruch von Kuchen entgegen, was meinen Magen grummeln lässt. Die erste Anspannung ist verflogen und mein Körper reagiert mit Hunger? Ernsthaft? Wenn ich so weiter mache, brauch ich bald wieder neue Klamotten. Das Café an sich ist gemütlich aber nichts Besonderes. Viele kleine Metalltische mit meistens vier Stühlen verteilen sich in dem kleinen Raum. Ein paar Landschaftsbilder hängen an den Wänden. Alles in allem ist es eher praktisch, um nicht zu sagen lieblos eingerichtet.

Leseprobe Saiten-Umbruch ab 19.09.24 im Handel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt