Black-Talon [13]

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Jeongin beobachtete zwei Teenager, die kichernd auf ein Handy starrten, während sie an einer Ampel hielten. Jisungs Sticheleien vor ihm brachten Minho zur Weißglut, doch der Wolf ließ sich nichts anmerken. Nur seine weiß, hervortretenden Knöchel auf dem Lenkrad sprachen für sich.
Der Drache blickte noch einmal zu dem Paar. Ein undefinierbarer Druck breitete sich in seinem Brustbereich aus, der nicht schmerzte, sondern nur unangenehm in ihm rumorte.
Es war seltsam, dass man das Gefühl hatte, die Kindheit würde für immer bleiben. Und dann wurde man sechszehn und die Welt verwandelte sich in eine Sanduhr, in der man beobachtete, wie der Sand in die falsche Richtung floss. Und man dachte an die Zeit, in der der eigene Herzschlag sich so anfühlte, als würde es dem Bass bei einer Rock Show spielen, doch jetzt durchflutete es einen, wie eine tickende Zeitbombe.
Und es war traurig, und überwältigend, und erdrückend.
"Kanntest du Lim Yoona?", fragte Jisung und riss ihn somit aus seiner Trance.
Nur weil seine Eltern reich waren, hieß es noch lange nicht, dass er jeden Prominenten kannte. Aber bei der Schauspielerin war das etwas anderes. Und Jeongin musste sich eingestehen, dass ihr Tod ihn wirklich hart traf. Zwar war sie nur seine Patentante und er hatte sie, wenn überhaupt, zweimal im Jahr gesehen, doch diese Male waren stets etwas besonderes. Geschmückt mit Lachen, Geschichten, und guter Laune. Sie war, trotz ihres Jobs, ein bodenständiger, offener Drache und ihm war bisher niemand begegnet, der eine Schwangerschaft so hervorragend stand wie ihr. Sie hatte förmlich gestrahlt. Ihre Konkurrenz der Sonne gegenüber war überwältigend.
"Nein. Ich habe sie nicht gekannt."
Der Druck in seinem Brutkorb nahm Gestalt an, breitete sich schleppend wie Teer aus.
Der Blauhaarige schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verbannen.
Jetzt war es an der Zeit dem Grauen ins Gesicht zu blicken.
Minho lenkte den Wagen geschickt zu dem Anwesen, wo noch immer Blaulicht flackerte. Das Gebäude war von einer hohen Backstein Mauer umschlossen, und durch die Gitterstäbe des schmiedeeisernen Tores konnten er und die beiden Älteren das Haus sehen, einen riesigen weißen Bau im Stil des amerikanischen Klassizismus, umgeben von schätzungsweise einem knappen Hektar smaragdgrünen Rasen. Im hinteren Teil des Anwesens glitzerte ein Teich, dessen hölzerne Brücke erhaben funkelte.
Jisungs Pfiff, während er aus dem Wagen glitt, wurde durch das Rufen eines Polizisten übertönt.
"Da sind Sie ja, folgen Sie mir!"
Ohne große Begrüßungsfloskeln folgten sie dem Menschen ins Innere des Gebäudes.
Yoona mochte die amerikanischen Lande, weswegen das Äußere auch eher dem Federal-Style glich. Die Inneneinrichtung hingegen erfüllten den Drachen stets mit Unbehagen. Im Gegensatz zu der Fassade entsprach die Inneneinrichtung eher der sachlich-modernen Richtung. Eine Galerie abstrakter Kunst vor strahlend weißen Wänden. Lediglich hier und da standen ein paar Bronzestatuen, oder Vasen mit abstrakter Farbgebung. Nirgends die Spur einer weiblichen Note, nur jede Menge Schlichtheit.
"Gestern um halb zehn hörte ein Nachbar Schüsse durch sein offenes Fenster. Er wählte sofort den Notruf und wollte sich vergewissern, dass Familie Lim wohlauf war, also nahm er seine Schrotflinte, für die er übrigens eine Genehmigung besaß, und eilte hinüber. Die Haustür stand speerangelweit offen, doch das Einzige, was er vorfand, war die Tote. Kein Hinweis auf den Mann oder das Neugeborene."
Jeongin nickte und bereitete sich innerlich auf den Tod vor. Natürlich konnte man das nicht. Niemand konnte es. Aber es war ein Trost zu wissen, dass er sich durch seine gestrafften Schultern stärker fühlte. Sie betraten das schwarz-weiß gehaltene Wohnzimmer, in dem sich nur eine scharlachrote Vase als optischer Blickfang bot. Eine Wand wurde von einem Flachbild-Fernseher beherrscht und eine Rauchglasvitrine enthielt eine beeindruckende Sammlung von Unterhaltungselektronik. Hinter dem Wohnbereich lag das Esszimmer und dort fand man Lim Yoona zusammengesunken an die Wand gelehnt. Die arteriellen Spritzer formten sich wie ein Heiligen Schein um ihren Körper. Die leblosen Augen blickten auf ihren Schoß.
Und mit einmal sah er die Frau, dessen ehrliches Lachen, ihn stets fasziniert hatte, vor sich schweben. Kein Ton drang aus ihrer Kehle, aber ihre Augen sagten alles.
Finde mein Kind!
Finde meinen Mörder, Jeongin!
Er schüttelte sich und wandte den Blick ab.
Wie war er hier nochmal gelandet?
In so einem Job?
Er hätte Wirtschaft studieren, in der Kanzlei seines Vater arbeiten oder Chef einer Zweigstelle sein können. Und doch stand er nun inmitten eines neuen Tatorts, sah das Leid über ihn herziehen. Er war erst Einundzwanzig, was so viel war, wie ein Katzensprung in dem Leben seiner Freunde und Teamkollegen. Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Wieso war er hier?
Da erinnerte sich der Drache an sein Versprechen. Ein Versprechen aus längst vergangener Zeit. Wie ein Faustschlag in die Magengegend katapultierte ihn sein Gehirn wieder in jene Erinnerung zurück, die er partout aus seinem Kopf streichen wollte. Er schüttelte die Verzweiflung ab, und kämpfte gegen den Drang des Erinnerns.
Er hatte etwas zu tun. Eine Aufgabe!
"Sie starb durch mehrere Schusswunden in den Brustbereich."
Minho trat näher an die Leiche und beugte sich hinunter. Schnüffelte, sog den vollen Geruch des Todes in sich auf.
"Wie ich sehe, wurde die Waffe sichergestellt", sagte Jisung und deutete auf einen Plastebeutel links von dem Opfer. Ein Fähnchen klebte am Boden, um den Fund zu dokumentieren.
"Keine Fingerabdrücke, dafür haben wir aber einige Patronen sichergestellt."
Jeongin meinte zu hören, dass der Polizist über diese Tatsache stolz war. Meistens nahmen die Täter ihre Waffen mit, um keine Spuren zu hinterlassen.
"Um was für Geschosse handelt es sich?", waren Jeongins erste Worte an diesem Tatort.
Der Beamte starrte auf sein Notizblock, blätterte ein paar Seiten weiter, zuckte die Achseln und hängte ein "keine Ahnung" hinten dran.
"Das ist doch dein Fachgebiet, Kleiner", grinste Minho und klopfte ihm mit seiner Pranke auf die Schulter. Jeongin nickte, während er merkte wie das altbekannte Kribbeln in seiner Bauchgegend begann. Mit seinen in Latex gehüllten Händen machte er sich daran, die Plastiktüte zu öffnen, um die Pistole freizulegen. Er entriegelte das Gehäuse und ließ die übrigen Patronen auf eine Hand fallen.
Nur ein Blick genügte.
Es war ein Black-Thalon- Geschoss.
"Es handelt sich um ein Hohlmantelgeschoss, hergestellt von der Firma Winchester. Diese Pratonen sind so konstruiert, dass sie sich nach einem Aufprall ausdehnen und das weiche Gewebe wortwörtlich zerreißen. Wenn sie in einen Körper eindringt, fächert sich der Kupfermantel zu einem sechseckigen Stern auseinander. Jede Spitze ist so scharf wie eine Kralle. Das Geschoss wurde Neunzehn-dreiundneunzig vom Markt genommen, nachdem ein Irrer in San Francisco bei einem Amoklauf damit neun Menschen tötete. Winchester bekam damals eine so schlechte Presse, dass sie die Black-Thalon vom Markt nahmen. Nichtsdestotrotz sind noch immer solche Pratonen im Umlauf."
Und diese hatten nun Lim Yoona getötet.
Jisung nickte ihm annerkennend zu.
Der Polizist starrte ihm mit offenem Mund entgegen.
"Sie wurde ohne Rücksicht erschossen und doch wirkt alles auf mich so unstimmig", äußerte Jisung und blickte auf sie herab.
Jeongin nickte. Sie gingen davon aus, dass
Siwon, ihr Ehemann, sie getötet hatte und mit dem Kind davon gerannt war. Natürlich schien es so, als hätte er sie umgebracht, ließ vor Schreck die Waffe zurück und stolperte so schnell wie möglich hinaus, um dem Nachbarn nicht zu begegnen.
"Aber das Abwischen der Fingerabdrücke spricht dagegen", fügte Minho seiner Erklärung hinzu. Ja, das war ihm auch aufgefallen. Der Drache ließ seinen Blick einmal durch die Umgebung schweifen.
Und da traf ihn eine Erkenntnis.
"Ich muss kurz etwas überprüfen."

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Guten Abend, meine lieben Leser und Leserinnen! Ich wünsche allen erst einmal frohe Ostern! Ich hoffe, ihr konntet die Zeit mit Familien, Freunden oder Tieren genießen! 🌿🌸

Was haltet Ihr von dem Kapitel? Ich finde ja Jeongins Vorliebe für Waffen fantastisch.


Feel free to comment!

Erin🌸

17.04.2022

Children Songs {ChangLix}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt