Es war unglaublich. Drachen gab es doch nur in Büchern und Filmen, dachte Isabell halb entsetzt, halb fasziniert. So war es zumindest bisher gewesen, doch dieser schlafende Drache, mit den silbernen schimmernden Schuppen, bewies das Gegenteil. Jahrhunderte lange Suchen nach diesen mysteriösen Wesen hatten immer negativ geendet, weshalb man Drachen schließlich als Sagengestalten abgestempelt hatte. Doch hier, mitten im Wald, lag der lebendige Beweis des riesigen Irrtums, gefunden von einem 13 jährigen Mädchen. Es war unfassbar!
Isabell überlegte kurz und kam dann zu dem Entschluss, den Drachen aller Welt zu zeigen. Dafür müsste sie ihn aber erst einmal einfangen. Seine Flügel schienen zu nichts mehr zu gebrauchen zu sein, da sie fest in die Ranken verwickelt waren. Das Problem würde das Maul werden. Auf jeden Fall konnte das Wesen sehr schmerzhaft, höchst wahrscheinlich aber auch tödlich zubeißen. Vielleicht besaß es ja sogar Feuer.
Isabell lief zum Rand der platt gewälzten Dornensträucher und schnitt eine möglichst lange Ranke ab. Leise schlich das Mädchen zurück zum immernoch schlafenden Drachen und näherte sich dem leicht geöffneten Maul. Zum Glück lag der Kopf so auf den Vorderbeinen, dass Isabell das vordere Ende leicht umwickeln konnte. Aus Versehen berührte ihre Hand ganz leicht die glatten, warmen Schuppen. Eine Art Schockwelle schoss, von ihren Fingerspitzen ausgehend, durch Isabell's Körper, hinab bis zu ihren Füßen und es war, als würde ein Gong in ihr drinnen geschlagen worden. Ein heller, klarer Ton hallte in ihrem Kopf wieder. Der Drache schien das selbe gespürt zu haben, denn plötzlich öffnete er eines seiner riesigen tiefgrünem Augen und starrte direkt in Isabells sturmgraue Augen.
Sein Blick war intensiver als erwartet und das Mädchen zuckte unwillkürlich zurück. " Was tust du da?", diese Stimme, tief, aber irgendwie fröhlich klang wie eben der Gongschlag in Isabell 's Kopf wieder. Wie konnte das sein? Wer sprach da? Doch nicht etwa der Drache, oder? Erneut mischte sich eine amüsierte Stimme in ihre Gedanken ein. " Doch, der Drache spricht. Ich spreche. Du tust etwas, was ist das?" " Ähm... ein... eine Ranke. Ich war gerade dabei sie... abzuwickeln, ja genau abwickeln.", verunsichert und mit zitternden Händen begann Isabell die stachelige Ranke wieder von der Drachenschnauze zu entfernen. Kaum war sie fertig, versuchte der Drache, scheinbar ein Männchen, sich aufzurappeln, doch er stolperte über etwas und ging, mit einem dumpfen Aufschlag, wieder zu Boden. Frustriert schnaufte er.
Besorgt suchte Isabell nach der Ursache seines Stolperns. War er verletzt? Nein, eine weitere Stachelschlange hatte sich um sein Hinterbein gewickelt und hinderte den Drachen am Aufstehen. Dieser lag auf dem Boden, schlug die Klauen in die Erde und brüllte seinen Frust in die Nacht hinaus. Es war genau das Brüllen, das Isabell die Nacht davor gehört hatte, nur um ein vielfaches lauter, weil sie direkt neben seinem Kopf stand. " Warte kurz. Ich kann dich befreien, aber dafür musst du kurz stillhalten, okay?" , sprach sie den Drachen an. Er neigte kurz den Kopf und blinzelte Isabell einmal langsam zu. Schließlich nickte er und legte die Schnauze zurück auf die Vorderbeine.
Vorsichtig trat das Mädchen an seine schimmernde Flanke und schnitt die störende Pflanze mit dem langen Messer ab. Auch an den Flügeln beseitigte sie die Pflanzen, deren Dornen sich teilweise durch die dünne Flügelmembran gebohrt hatten. Es dauerte eine Weile, doch nach einigen Minuten war Isabell fertig. Sie nickte dem Drachen zu. Sehr vorsichtig zog dieser sämtliche Gliedmaßen an den Körper und stellte sich dann auf die krallenbewerten Füße. Er brummelte fröhlich, dann streckte er die riesigen Flügel. Sein schlanker Schwanz peitschte über den Boden und die Schuppen verursachten ein leises Kratzgeräusch. Isabell wollte sich gerade unbemerkt zurückziehen, als das Wesen seinen großen Kopf wieder ihr zuwand. " Du bist meine Auserwählte. Komm mit mir." Entsetzt starrte das Mädchen ihn an:" Ähm... nein, ich... ich glaube, du hast etwas falsch verstanden. Ich hab dich nur befreit. Ich muss auf meinen Bruder warten..."
Wäre der Drache ein Mensch, würde er jetzt laut loslachen. Doch nun konnte er nur ein grollendes Brummeln von sich geben. Schließlich hatte er sich wieder eingekriegt und meinte belustigt:" Nein, ich hab alles richtig verstanden. Ich bin ein Geistdrache aus Kynogea. Ein Gesandter der Königin. Ich würde geschickt, um mir meinen Seelenmensch an meine Seite zu holen. Zusammen werden wir der Wache helfen das Land zu retten. Eigentlich sollte ich schon bei Vollmond bei dir sein, aber dann hab ich mich hier verfangen und wurde aufgehalten. Deshalb frage ich dich jetzt: Kommst du mit mir nach Kynogea? " Seine großen, grünen Augen sahen sie gespannt an.
Isabell war komplett überrumpelt und verwirrt. " Ähm warte mal kurz... Du kommst aus einem Land, dass scheinbar nicht auf unserer Erde liegt. Von dort wurdest du geschickt, um mich zu... holen. Ich verstehe nicht ganz, warum du mich auserwähltest. Ich kann nicht mit dir kommen, da ich auf meinen Bruder warten muss. Bitte, such jemand anderen aus! Ich muss Melvin finden!", den Tränen nah, drehte Isabell sich um und wollte weglaufen, als der Drache sich plötzlich vor sie stellte. Sein Kopf war etwa auf 2,5 Metern Höhe, weshalb er auf das verzweifelte Mädchen hinabblickte.
" Ich wählte dich nicht aus. Wir waren von Anfang an für einander bestimmt. Vor zehn Jahren, als ich noch im Ei war, spührte mein Ich schon, dass mein Seelenpartner hier sein würde. Ich kann nicht ohne dich zurückkehren und wenn dir soviel an deinem Schlupfgefährten liegt, werde ich mit dir auf ihn warten. Ewig, wenn es sein muss, aber ein Geistdrache trennt sich instinktiv nie wieder von seinem Seelenpartner. " Das war überraschend... und besorgniserregend. Wer geht denn bitte in den Wald, findet dort einen Drachen, der behauptet sein Seelenpartner zu sein und sich nie wieder von einem trennen möchte?! Und jetzt wollte er Isabell auch noch in ein anderes Land mitnehmen. Das warum viel. Viel zu viel. Isabell schwankte und dann war alles dunkel.
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Geisterschwingen
FantasyAls Isabell und Melvin es bei ihren Großeltern nicht mehr aushalten, fliehen sie in den Wald. Doch dort erwartet sie die nächste Überraschung, da sie jemanden treffen, der sie mitnimmt in eine andere Welt. Doch dort ist die Stimmung angespannt und d...