Ich stehe da. Den Blick auf das Gebäude vor mir gerichtet. Ungeheuerlich ragt das Krankenhaus vor mir auf. Ich will wegrennen, fliehen. Doch ich kann meine Füsse nicht bewegen. Ich stehe einfach da. Ich habe Angst, grosse Angst und ich will nichts lieber als schnell weg von diesem Ort, doch ich kann nicht. Ich muss hinein in dieses Krankenhaus, muss mich vergewissern, dass alles gut läuft.
Schliesslich mache ich einen Schritt auf dem Eingang zu. Dann einen zweiten. Langsam komme ich immer näher. Ich beschleunige meine Schritte, erreiche die grosse Schiebetür. Automatisch geht sie auf und ich bin im Innern des Hoffnung schluckenden Monsters. Ich habe Angst, ich will nicht weiter gehen, doch ich muss. Ich muss wissen, dass es ihm gut geht.
Mit zitternder Stimme erkundige ich mich nach seiner Zimmernummer. Die Empfangsdame wirft einen verächtlichen Blick auf meine schwitzenden Hände. Erst dann gibt sie mir die Informationen, die ich so sehnlich zu erfahren wünsche. Ich stehe vor dem Lift, warte bis die Türen sich öffnen. Endlich stehe ich im Lift, ich schliesse die Augen.
Die Dosis der Narkose ist falsch berechnet. Er wird nie wieder aufwachen. Er ist tot, für immer.
Entsetzt reisse ich meine Augen wieder auf. Ich atme schwer. Ich versuche mich zu beruhigen, mich zu überzeugen, dass dies nur meine Ängste sind, die mich verfolgen. Nichts entspricht der Wahrheit. Alles nur ein Streich meines Gehirns.
Die Lifttüren öffnen sich, ich eile heraus, den Gang entlang. Ich komme voran, dennoch wird der Flur immer länger und mein Ziel entfernt sich mehr von mir. Ich beginne zu rennen. Anfangs langsam, dann immer schneller, bis ich schneller nicht mehr kann. Doch mein Ziel kommt nicht näher, egal wie schnell ich renne. Ich breche zusammen, mitten auf dem Flur. Ich liege auf dem Fussboden. Krümme mich zusammen, versuche zu verschwinden. Doch nichts dergleichen geschieht. Gar nichts geschieht. Kein Arzt und auch keine Schwester kommen vorbei. Ich bin allein. Allein mit meinen Ängsten.
Der Arzt ist ein Anfänger, er weiss nicht was er tut. Er begeht einen Fehler, der den Patient das Leben kostet. Er ist tot, für immer.
Ich schreie laut, doch niemand hört mich. Verzweifelt stämme ich mich hoch. Ich gehe weiter. Laufe immer weiter, egal wie aussichtslos das Ganze erscheint. Ich kann nicht aufgeben. Ich kann ihn nicht aufgeben.
Und dann habe ich es geschafft. Ich habe sein Zimmer erreicht. Froh es endlich geschafft zu haben, lege ich meine Hand auf die Klinke. Ich atme tief durch, dann drücke ich sie hinunter. Ich lege ein Lächeln auf mein Gesicht, dann schwingt die Tür auf. Ich sehe viele Geräte und Schläuche, Kittel und Klemmbretter, Stethoskope und Fiebermesser. Ich sehe ein grosses Bett mit weissen Laken. Das Bett ist leer. Das ganze Zimmer ist leer. Niemand ist da. Er ist nicht da. Ich weiss, was das bedeutet. Das Lächeln gefriert mir auf dem Gesicht. Ich lehne an einer Wand, sie trägt mich. Ich lasse mich an ihr herunter gleiten. Nun sitze ich da und kann nichts tun. Bin alleine, verlassen. Ausdruckslos starre ich in die Leere. Ich nehme nichts wahr.
Der Puls senkt sich, das Herz hört auf zu schlagen. Die Ärzte versuchen ihn zu retten, doch auch sie können nichts mehr ausrichten. Es ist zu spät, er ist tot. Tot für immer. Für immer.
Ich möchte weinen. Ich möchte schreien. Ich möchte, dass er zurückkehrt. Doch ich kann meine Wünsche nicht erfüllen. Meine Augen bleiben trocken und emotionslos. Ich kann nichts tun. Nichts. Ich bin eingefroren in der Zeit. Und während ich mich nicht rühre aus Angst, die Welt könnte mich erschlagen, tue ich das Einzige, was mir noch übrig bleibt. Ich gebe auf. Jetzt sind wir beide tot.
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Für immer tot
Short StoryEine Kurzgeschichte #3 in Kurzgeschichten (20.4.15) © 2012 Lucie Jules