Die erste Morgenröte kitzelte bereits die Dächer von Sjørgren, als Erren seinen gewohnten Weg am Fjellberg zum Drachengletscher beschritt. Vogelgesang und eine kühle Brise vom Bergland begleitete ihn auf seinem Weg durch den Fjord, an dessen Ufer das unscheinbare Dörfchen langsam in der Dämmerung zu leuchten begann. Der würzige Duft von Blättern, feuchter Erde und Salzwasser hing in der Luft, als alles langsam wieder zum Leben erwachte und die ersten Pferde sich hinaus auf die Straßen wagten, um geschäftig ihrer Arbeit nachzugehen, denn der Frühling war eingekehrt und es gab viel zu tun.
Die Fischernetze mussten geflickt und die Felder bestellt werden, damit im Sommer und Herbst wieder genug Vorräte für den Winter geerntet werden konnten.
Angesichts der dampfenden Schlote war es kaum vorstellbar, dass Erren und Faenja das Dörfchen vor wenigen Jahren vollkommen in Schutt und Asche gelegt vorgefunden hatten. Damals war das Tal trostlos, grau und unheimlich gewesen. Beinahe, als ob es von einem bösen Fluch heimgesucht worden war.
Jetzt drang hier und da wieder vereinzelt Hundegebell aus den Gassen. Hin und wieder sprang die ein oder andere Ratte über die Straße, um dann zwischen wildem Hufgetrappel der Pferde auf der anderen Seite in einem Loch im Mauerwerk zu verschwinden.
Erren hätte von hier oben aus ewig so diesem Treiben zusehen können. Er spitzte die Ohren und reckte den Hals, um besser erkennen zu können, was dort vor sich ging, doch die Dächer der Häuser versperrten ihm die Sicht. Auf dem Marktplatz schien heute ganz besonders großer Trubel zu herrschen. Das war ungewöhnlich. Er würde später, wenn er wieder zurück war, nachsehen, was dort los war. Also setzte er alsbald seinen Weg fort, um den Sonnenaufgang auf dem Berg nicht zu versäumen.
In Nostalgie schwelgend, dachte Erren an jene Zeit zurück, in der er in Skjell jeden Morgen den Aufstieg vom Räuberlager zu seinem kleinen Hügel gemacht hatte, um von dort den Sonnenaufgang zu beobachten.
Die Zeiten des Raubens und Mordens waren nun schon so lange vorbei, dass die Erinnerungen bereits im Kopf des ehemaligen Räuberkönigs verschwammen. Sich goldener anfühlten, als sie eigentlich gewesen waren.
Wahrscheinlich sehnte er sich deshalb manchmal wieder diese Zeiten herbei. Hunger und Armut, Angst und Verfolgung, Mord und Totschlag, das alles fühlte sich nun beinahe trivial an. Als ob es gar nicht der Kern dessen gewesen war, was sein Leben damals ausgemacht hatte. Als ob es die kleinen, schönen Dinge waren, an die er sich stattdessen erinnerte.
Das Singen am Lagerfeuer mit seinen Räuberkollegen, die leuchtenden Augen der kleinen Rona, als er ihr das Holzschwert geschenkt hatte, die Freiheit und der Wind in seiner Mähne.
Merkwürdig eigentlich. Er erinnerte sich genau an die Wut, die er immer in sich gespürt hatte, als er durch die ihm so vertrauten Wälder galoppiert war. Warum sehnte er sich nun zurück?
Doch nun stand er hier. Einmal mehr hatte ihn der Gletscher im Gebirge über Sjørgren angezogen, dieses Mal allerdings nicht auf eine negative Art und Weise. Viel eher hatte ihn die Sehnsucht nach etwas Ruhe und Klarheit heraufgetrieben.
Er lebte nun schon sechs Pferdejahre in Fjellland. Weit, weit entfernt von seinem Zuhause. Weiter, als irgendein Pferd jemals gelaufen war. Da war er sich ziemlich sicher. Er hatte nun alles, was er sich damals je gewünscht hatte. Eine Gefährtin, einen wundervollen Sohn und Freunde, die ihm nicht bei der nächsten Gelegenheit ein Messer in den Hals rammen wollten und dennoch nagte etwas an ihm.
Er hatte sich schon oft selbst gefragt, ob er hier glücklich war und nie hatte er aus vollem Herzen antworten können. Weder mit ja, noch mit nein. Es fühlte sich an, als fehlte irgendetwas. Da war ein Loch in ihm, von dem er nicht wusste wie er es füllen konnte.
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Erren - Schattenspiel
FantasyACHTUNG: Diese Geschichte ist verfasst als eine Art Fabel, in der alle Hauptcharaktere als Pferde dargestellt sind.Ihr Verhalten ist jedoch soweit vermenschlicht, dass die Story jederzeit auf Menschen umgeschrieben werden kann. »Ich habe alles verl...