Josua ben Hanani

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„Doch", meinte er beinahe freundlich, „du sollst deinen Stolz haben. Aber nicht in jeder Lage ist jede Tugend angemessen, du weißt schon." Peitholaos lächelte Silas aufmunternd zu und der nickte dankbar. Dann ließ ihn Peitholaos los und ging langsam auf das Fenster zu, das auf den Innenhof hin ausgerichtet war. Er stützte sich mit den Händen auf den Steinen ab, welche die Fensterbank bildeten, und blickte hinaus.

„Jeden anderen, Silas", fuhr er ruhig zu sprechen fort, „würde ich auf den Hof führen, an einen Pfahl binden und auspeitschen lassen." Er drehte sich um und sah Silas in die Augen. „Aber dich nicht."

„Warum, Herr?", fragte Silas verständnislos und wusste nicht, ob er über die Worte des Offiziers erleichtert oder beunruhigt sein sollte.

„Du hast Schlimmes erlebt", antwortete Peitholaos sicher. „Und ich will nicht, dass du ein weiteres Mal gedemütigt wirst."

Silas atmete tief aus. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, er blinzelte und drehte sein Gesicht zur Seite, um seine Erregung zu verbergen.

„Zögert nicht, Herr", bat er mit zitternder Stimme, „ich habe mich schuldig gemacht und es ist nur natürlich, dass ich dafür bezahlen muss. Aber bitte, schickt mich nicht fort."

„Nein, ich schicke dich nicht fort", erwiderte Peitholaos väterlich. „Du gehst jetzt zu den anderen und alles ist gut, hörst du?" Dabei lächelte er Silas wieder aufmunternd zu und der erwiderte das Lächeln vorsichtig. „Aber ich werde dich nur dieses eine Mal verschonen." Er machte eine Pause. „Du hast meine Befehle missachtet, Unruhe gestiftet und zwei Männer verletzt. Das darf nicht wieder vorkommen."

Silas nickte. Er war zu überwältigt, um zu sprechen. Er beobachtete, wie Peitholaos zu einer großen Truhe ging und darin herumwühlte. Vielleicht will er mich hier züchtigen, dachte Silas und die Erklärung erschien ihm die einzig plausible, auch wenn sie im Widerspruch zu dem stand, was Peitholaos gerade gesagt hatte. Silas atmete tief durch. Ich werde alles dankbar annehmen, wiederholte er für sich, wenn ich nur nicht wieder ein Sklave sein muss. Peitholaos richtete sich auf. Er hatte offenbar gefunden, wonach er gesucht hatte. Doch zu Silas Überraschung war es keine Rute, sondern ein schlichtes weißes Hemd.

„Da, zieh das an", forderte ihn Peitholaos auf. „Ich will nicht, dass du so hinausgehen musst."

Silas gehorchte willig und verbeugte sich leicht. „Ich habe eure Güte nicht verdient", flüsterte er.

„Keiner von uns hat die Güte verdient", korrigierte ihn Peitholaos sanft, „Sie ist ein Geschenk Gottes."

Der letzte Satz durchfuhr Silas wie ein Stich. Es wurde ihm heiß und kalt zugleich und er konnte seine Gefühle kaum mehr unter Kontrolle halten. Peitholaos war nicht der erste, den er so über die Güte Gottes hatte sprechen hören. Es waren dieselben Worte, die ihm sein Vater gesagt hatte, wenn er ihm seine Dummheiten und Streiche großmütig verziehen hatte. Obwohl Silas damals nicht älter als sieben Jahre alt gewesen sein konnte, war die Erinnerung in ihm so lebendig, als wäre seitdem kein einziger Tag vergangen.

Wieder legte ihm Peitholaos die Hand auf die Schulter. „Wenn du das nächste Mal Schwierigkeiten hast, Silas", begann er fürsorglich. „Dann lässt du nicht deine Fäuste sprechen, sondern kommst zu mir. Ich werde dir Gerechtigkeit verschaffen, das verspreche ich dir."

„Ja, Herr", erwiderte Silas und zum ersten Mal seit der Schlägerei mit den beiden jüdischen Adeligen fühlte er sich wieder frei, beinahe unbeschwert. Er warf Peitholaos einen dankbaren Blick zu. Doch im selben Augenblick erschrak er, denn die Art und Weise, wie der andere ihn musterte, brachte Distanz und Misstrauen zum Ausdruck.

„Seid ihr sicher, dass ihr...", Silas stockte. Er kam sich dumm vor, Peitholaos schon wieder darum zu bitten, bestraft zu werden. Aber zugleich spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist mit euch, Herr?" fragte er vorsichtig. „Habe ich etwas falsch gemacht?"

„Nein, Silas", erwiderte der Offizier gutmütig, „mach dir nicht so viele Gedanken. Es ist nur", er unterbrach sich kurz und sah ihm prüfend ins Gesicht, „du erinnerst mich an jemanden. Die ganze Zeit schon. An einen Mann, der mir sehr viel bedeutet hat. Er hatte zwar weder blaue Augen noch blondes Haar, aber ansonsten bist du ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Dieselbe hohe Stirn, die sich beim Denken in Falten legt, derselbe scharfsinnige Blick. Aber es ist unmöglich. Du bist Grieche und der Mann, den ich meine, war ein jüdischer Priester, der am Tempel gedient hat." Peitholaos seufzte schmerzlich und wandte sich von Silas ab. Wieder ging er ans Fenster. „Sein Tod war abscheulich. Er war einer der ersten, die den politischen Wirren nach dem Tod der Königin Alexandra zum Opfer gefallen sind", fuhr er nach einer Weile fort. „Er hat sich hingegeben, damit die übrigen Priester am Leben blieben." Peitholaos schwieg. Ein Priester am Jerusalemer Tempel, wiederholte Silas innerlich und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

„Als meine ägyptische Herrin mich einen Griechen genannt hat, wollte ich nicht widersprechen", begann Silas, zunächst zögerlich. „Und in gewisser Weise ist es auch richtig, denn meine Mutter stammt aus dem Epirusgebiet. Aber ich selbst wurde in Jerusalem geboren, als Sohn des Josua ben Hanani." Bei seinen letzten Worten hatte sich Peitholaos vom Fenster abgewandt. Er starrte Silas nun ungläubig an.

„Sein Sohn?", flüsterte er. Silas nickte und hielt dabei dem Blick des Offiziers stand. Doch zugleich fürchtete er, dass ihn seine Gefühle jeden Moment überwältigen würden.

„War er euer Lehrer?", fragte er deshalb schnell, solange ihm die Stimme noch gehorchen mochte.

„Ja", erwiderte Peitholaos andächtig, „es gab keinen anderen für mich neben ihm. In meiner Welt waren seine Worte die Wahrheit." Er lächelte und Silas sah an seinen Augen, dass Peitholaos sich ganz und gar der Erinnerungen hingab. „Ich habe ihn verehrt, wie ein Schüler einen Lehrer nur irgendwie verehren kann", fügte er nach einer Weile hinzu. „Ich weiß, er war mit einer Griechin verheiratet und hatte einen kleinen Jungen." Seine letzten Worte klangen weich und allmählich begriff Silas, dass auch Peitholaos Mühe hatte, die Beherrschung zu bewahren. Er kam auf ihn zu und noch bevor Silas überlegen konnte, was nun geschehen würde, schloss Peitholaos ihn in die Arme. So standen sie eine Zeit lang da. Ein jeder hörte den Herzschlag des anderen, ein jeder war bemüht, die Fassung zu bewahren.

„Ich bin so froh", hörte Silas Peitholaos flüstern. Es war zwar nicht klar, was genau er damit meinte, doch es spielte auch keine Rolle.

„Erzählt ihr mir von seinem Tod?", bat Silas leise und da Peitholaos nicht sofort antwortete, setzte er zu sprechen fort. „Ich habe nie gewagt, meine Mutter danach zu fragen. Und als ich am Morgen nach dem Sukkot-Fest vor Para in meiner Stellung auf den Angriffsbefehl gewartet habe, wusste ich, dass es dazu nun zu spät war."

Peitholaos ließ Silas vorsichtig los. Dann nahm er sein Gesicht in beide Hände und streichelte liebevoll seine Wangen. „Du hast bei Para gekämpft", sagte er mehr zu sich als zu Silas, „ich wusste nicht, dass es unter den Juden Überlebende gab." Dann ging er einen Schritt zurück, als müsste er Distanz zwischen sich und seinen Soldaten bringen.

„Hör zu, mein Junge", begann er sanft, „ich habe heute noch zu tun. Aber in den nächsten Tagen werden wir bestimmt die Zeit finden miteinander zu sprechen. Dann reden wir über deinen Vater, über seinen Heldenmut und darüber", er unterbrach sich kurz und warf Silas einen verschmitzten Blick zu, „was aus seinem Sohn seit damals geworden ist." Peitholaos deutete eine leichte Verbeugung an und Silas erwiderte den Gruß voller Ehrfurcht, Dankbarkeit und Zuneigung.

„Ich danke euch", flüsterte er und wandte sich schnell von Peitholaos ab. Zum ersten Mal seit er von seiner Mutter fortgegangen war, hatte er wieder das Gefühl, auf der Welt nicht ganz allein zu sein. Um diese Empfindung auszukosten, wäre er gerne länger bei Peitholaos geblieben. Zugleich wusste er aber, dass es besser war, ihr Gespräch an einem anderen Tag fortzusetzen, denn es fehlte nicht viel, und er wäre vor dem Oberbefehlshaber in Tränen ausgebrochen.

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