Blueberrytea

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Zwei wachsame Augen lassen ihren Blick über Baletown schweifen, aufmerksam, beobachtend. Meine Augen. Wie jeden Nachmittag um 4 Uhr sitze ich in dem leicht verwucherten Garten meines Hauses auf dem kleinen Berg, der an die Stadt grenzt, und trinke Heidelbeertee. Ein Genuss - wenn die warme, wohltuende Flüssigkeit meine Kehle hinunter rinnt und mich von innen heraus wärmt. Ein kalter Windhauch streicht über meinen Körper und leicht fröstelnd ziehe ich mir den beigefarbenen Wollschal enger um die Schultern. Leise Schritte kündigen das Kommen einer Person an. "Benötigen Sie noch etwas, Mylady?", erklingt die sanfte Stimme meines Butlers, Jamesberry. Ich wende mich zu ihm um und erwidere: "Nein, vielen Dank." Er zögert, will anscheinend noch etwas sagen, doch aus seinem Mund erklingen keine Worte. "Sprechen Sie ruhig, Mr. Jamesberry. Ich beiße nicht", ermutige ich ihn und erleichtert sagt er: "Ich wollte Sie fragen, ob ich eventuell morgen frei bekommen dürfte." "Aber natürlich, mein Lieber! Das haben Sie sich verdient. Eine Frage allerdings hätte ich noch: Warum denn ausgerechnet Morgen?" "Meine Schwester ist... gestorben. Und am morgigen Tag ist ihre Beisetzung." "Aber, Mr. Jamesberry, warum haben Sie denn vorher nichts gesagt?! Mein herzlichstes Beileid! Natürlich gebe ich Ihnen bis Sonntag frei, damit Sie alle Zeit haben, die Sie benötigen." "Oh, vielen Dank, Mylady. Das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen!" "Aber, aber, das ist doch selbstverständlich, mein Lieber. Und nun packen Sie schon Ihre Sachen, morgen früh nehmen sie am besten den ersten Zug um 7:00 Uhr." "Natürlich, Madam." Mein schon etwas in die Tage gekommener, aber trotzdem sehr aufgeweckter Diener dreht sich von mir weg und läuft in das weiße, alte Haus zurück, das wir beide momentan bewohnen. Einen Seufzer ausstoßend lehne ich mich in dem bequemen Sessel zurück und genieße den Anblick der immer früher untergehenden Sonne. Ach, wie vergänglich diese Welt doch sein kann... Mit einer zierlichen Bewegung führe ich die mit rosa Rosen verzierte Porzellantasse an meine Lippen und trinke einen Schluck der rot-blauen Flüssigkeit. Plötzlich springt ein weißer Schatten auf meinen Schoß und nach einer kurzen Schrecksekunde erkenne ich, dass es nur mein Kater ist, der sich jetzt an mich schmiegt. "Hallo Mikesh, ich habe dich gar nicht kommen gehört", raune ich ihm ins Ohr und ein leises Schnurren ertönt, bevor er sich zusammen rollt und die Augen schließt. Langsam lasse ich meine Hand über sein Fell wandern, zeichne seine Muskelpartien nach und versinke in meinen Gedanken. "Jeanny? Liebste!" Erschrocken fahre ich zusammen, blinzele und strecke mich. Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn mittlerweile ist es schon dunkel und Mikesh liegt nicht mehr auf meinem Schoß. Verwundert sehe ich mich im Garten nach dem Ursprung der Stimme um, erkenne aber außer den vom Wind zerzausten Gebüschen und Blumen nichts. Neugierig stehe ich auf, raffe meinen altmodischen, langen Rock hoch und folge den lockenden Rufen. "Jeanny!" Diese Stimme... Ich kenne sie, weiß nur zu gut, von wem sie stammt und will die Person eigentlich nicht sehen, und trotzdem, eine unsichtbare Kraft zieht mich weiter durch den Garten, in Richtung eines alten Baumes, einer schönen Weide. Bedächtig schiebe ich die hängenden Äste zur Seite und sehe denjenigen, der gerufen hatte, ein Mann, mit wunderschönen, schwarzen Haaren und durch die Nacht strahlenden grün-blauen Augen. Er trägt einen Anzug, einen dunkelgrauen, mit einer angesteckten Rose. Ich gehe auf ihn zu, lächelnd, voller Freude, ihn endlich wiederzusehen, ihn, meinen Ehemann. Er breitet seine Arme aus, meine Schritte werden schneller, und noch während ich laufe, verändere ich mich. Mein runzeliges, von der Zeit gezeichnetes Gesicht wird wieder jung, die alten Kleider verschwinden, ein schönes Ballkleid erscheint an ihrer statt und meine zerbrechlichen Knochen werden kräftiger. Lachend springe ich in die Arme meines Mannes, er wirbelt mich herum, küsst meine Stirn, meine Wangen, meine Lippen, als wolle er all die verlorene Zeit wieder aufholen. Wir tanzen, gemeinsam, fröhlich und unbeschwert unter der alten Weide, und um uns herum schweben Lichter, wie kleine Kerzen, und Rosenblätter bedeckten den Boden. Es erscheint mir, als wären nur ein paar Sekunden vergangen, doch in Wirklichkeit musste es eine Ewigkeit gewesen sein. Ein letzter, liebevoller Blick in seine Augen, seine Lippen, die murmelen: "Ich werde dich immer lieben, Jeanny", meine Erwiderung: "Ich dich doch auch", und der magische Moment ist vorbei. Ich wache auf, noch ganz benommen von meinem Traum, der sich so unglaublich echt angefühlt hatte und starre in helle Lichter. "Endlich ist sie wach!", murmelt jemand, Jamesberry beugt sich über mein Bett und fragt: "Mylady, geht es Ihnen gut?" Ein Lächeln ziert meine Lippen, als ich erwidere: "Es ging mir nie besser", dann schließe ich wieder meine Augen. Weder ich noch sonst jemand im Krankenhaus weiß, dass dies mein letzter Augenblick auf dieser Welt gewesen ist, doch als ich aufwache, befinde ich mich an einem Ort, der viel schöner ist als die Erde, mit blühenden Rosen und Veilchen, wunderschönen Weiden, und inmitten dieses Paradieses ein kleiner, weißer Metallisch, an dem ein Mann sitzt, Heidelbeertee trinkt und mich lächelnd zu sich winkt. Mein Mann. Endlich sind wir wieder beieinander - dieses Mal aber für immer...

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