Der Schreiber des Gabinius

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„Jonathan! Geht es dir gut?", hörte er da die Stimme des Freundes. Distenes war zurückgekehrt. Er wirkte entschlossen und selbstsicher wie eh und je und hielt Jonathan wohlwollend einen Tonbecher hin. „Trink, um Gottes Willen, bevor du an der Hitze krepierst," meinte er fürsorglich und deutete zugleich dem kleinen Jungen, der ihn offensichtlich begleitet hatte, zu warten.

Jonathan murmelte einen Dank und leerte das Behältnis mit ein paar kräftigen Schlucken. Der Saft des Granatapfels, Tabithas Lieblingsgetränk, schoss es ihm durch den Kopf, und er ärgerte sich zugleich, dass es nach all der Zeit, die er schon von ihr getrennt war, in seiner Wahrnehmung, seiner Erinnerung und seinem Denken doch immer nur diese eine Frau gab. Er spürte, wie Distenes ihm einen Arm auf die Schulter legte und ihn zielstrebig in Richtung der Steinmauer schob. Tatsächlich hatte sich der Stand der Sonne, seit Distenes fortgegangen war, verändert und es war eine kleine Fläche entstanden, die ihnen zugleich Schatten und eine gewisse Distanz zu den übrigen Diplomaten bot. Jonathan ließ sich willig führen, gab dem Jungen den leeren Becher zurück und lehnte sich sogar leicht an die raue Wand, selbst wenn er dadurch weniger souverän wirkte, als wenn er frei gestanden wäre. Doch Gabinius hatte sich bis jetzt nicht gezeigt und es würde mit Sicherheit auch nicht der Stadthalter selbst sein, der ihnen hoffentlich in absehbarer Zeit die Tore öffnen mochte.

„Geht es dir gut?", wiederholte Distenes, eindringlicher als zuvor, und da Jonathan nicht gleich antwortete, fuhr er fort: „Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen, mein Freund. Wir waren sogar die Ersten, die sich freiwillig gemeldet haben, nach Judäa zu gehen. Gewiss, Ptolomäus hat die Entscheidung recht eigenmächtig getroffen, denn er wollte die Möglichkeit prüfen, Ägypten am Landweg zu erreichen. Aber das lag nicht in unserer Verantwortung."

„Es war sein letzter verzweifelter Versuch, den Senat zu einer Entscheidung zu bewegen", unterbrach ihn Jonathan stumpf.

„Ganz recht", stimmte ihm Distenes zu. „Vielleicht ohne Aussicht auf Erfolg, aber immerhin besser, als in Ephesus auszuharren und nichts zu unternehmen."

Jonathan nickte und eine Zeit lang schwiegen sie beide. Dann gab ihm Distenes ein Zeichen, das er nicht eindeutig zuordnen konnte. Also wartete er, immer noch an die Mauer gelehnt, und beobachtete, wie Distenes auf einen der Wachsoldaten zuging und mit ihm ein Gespräch begann. Während Jonathan ihm beim Gestikulieren zusah und immer wieder ein paar Wortfetzen aufschnappte, rief er sich die Ereignisse der letzten Wochen noch einmal in Erinnerung. Von Ephesus aus hätte Ptolomäus eigentlich nur ein paar Wochen benötigt, um mit seinem Tross nach Alexandrien zu gelangen, und aufgrund der Tatsache, dass die Gebiete weitgehend unter dem Einfluss des Pompeius standen, wären auch keine gröberen Schwierigkeiten zu erwarten gewesen. Allerdings hatte der Ägypter es nicht gewagt, diesen Schritt zu tun, wohl weil er befürchten musste, damit Crassus zu verärgern, der selbst Vorbereitungen traf, um in Ägypten militärisch tätig zu werden. Also hatte Ptolomäus eine kleine Gesandtschaft vorausgeschickt, um sich entlang der Strecke der Unterstützung seitens der Ortsobrigkeiten zu vergewissern.

Jonathan, der immer noch das Vertrauen des entmachteten Pharaos genoss, hatte sich gemeinsam mit Distenes und einigen wenigen Diplomaten in Milet auf einem von nabatäischen Händlern angemieteten Boot eingeschifft, mit dem sie in wenigen Tagen den Hafen von Patara und anschließend Tyrus erreicht hatten. Dort waren sie an Land gegangen und hatten dann, anstatt mit der Karawane über Judäa zur Sinai-Halbinsel und vom Nildelta nach Alexandrien, also in den Süden zu marschieren, den Weg nach Norden eingeschlagen und hatten schließlich Damaskus erreicht. Die offensichtliche Verlängerung des Weges war Jonathan von Anfang an suspekt gewesen. Und auch die unerwartete Vorladung bei Gabinius war alles andere als geeignet, sein Unbehagen auszuräumen. Immerhin stand der Umstand, dass sie ihre Mission bisher verdeckt durchgeführt hatten, in einem offensichtlichen Widerspruch zu einem Empfang beim Prokonsul der Provinz Syrien.

„Es wird nicht mehr lange dauern!" Die Worte des Distenes, mit denen der sich an die kleine Delegation gerichtet hatte, rissen Jonathan aus seinen Gedanken.

Er atmete tief durch, löste sich nun endlich von der Wand und richtete sich auf. Er hatte den Hof des Ptolomäus mit dem klaren Auftrag verlassen, die Juden in Alexandrien davon zu überzeugen, dass die Rückkehr des Pharaos die beste Entscheidung für alle war. Herodes hatte ihn gewissermaßen mit einer Vollmacht ausgestattet, die ihm erlaubt hätte, im Namen von Antipater und schlussendlich von Hyrkan selbst zu agieren. Ich bin längst nicht mehr der junge Widerstandskämpfer, den man ohne weiteres an das nächste Kreuz nageln kann, sagte sich Jonathan, doch der Gedanke vermochte ihn nicht zu beruhigen. Der Stellvertreter des Hohenpriesters zu sein, hätte ihm gegenüber den Juden in Ägypten gewiss Autorität verliehen, dem römischen Prokonsul würde sein ehrenhaftes Amt aber vermutlich reichlich egal sein.

In dem Moment wurde das breite Flügeltor geöffnet und sie wurden eingelassen. Jonathan folgte den übrigen Männern, hielt sich aber im Hintergrund.

„Wir haben nichts zu befürchten", hörte er noch einmal Distenes nah an seinem Ohr raunen.

„Du hast nichts zu befürchten", gab er leise zurück. „Ich habe meine eigene Geschichte mit den Römern", fügte er hinzu und erschrak zugleich über seine Ehrlichkeit.

Gemeinsam mit Distenes schritt er die Stufen hinauf, die den Eingangsbereich von jenen Räumlichkeiten trennten, in denen Gabinius während seines Aufenthalts in Damaskus residierte. Der ausladende Aufgang war links und rechts von bewaffneten Soldaten flankiert, die sie, noch bevor sie die nächste Tür erreicht hatten, weitere zwei Mal kontrollierten. Jonathan wurde besonders gründlich durchsucht.

„Das kommt daher, dass du Jude bist", flüsterte ihm Distenes zu, der Jonathan mittlerweile gut genug kannte, um ihm die nach außen zur Schau getragene Gelassenheit nicht abzukaufen. Weil ich Jude bin, wiederholte Jonathan bei sich. Gewiss, die politische Lage in Jerusalem hatte sich zugespitzt. Und spätestens seit Aristobolus und sein Sohn Alexander wieder im Lande waren, galten den Römern alle Juden als mögliche Staatsfeinde. Doch reichte das als Erklärung aus?

Eskortiert von einigen Legionären wurden sie in einen kahlen Raum gebracht, wo hinter einem schlichten, aber breiten Holztisch zwei Schreiber saßen. Diese waren damit beschäftigt, Wachstäfelchen und Schriftrollen zu sortieren, in unterschiedlichen Körben abzulegen und immer wieder kurze Notizen anzubringen. Die Hingabe, mit der sie die einzelnen Dokumente lasen, bevor sie sie weiterbearbeiten, strahlte auf Jonathan eine Art Ruhe aus, und es gelang ihm allmählich wieder frei zu atmen.

Plötzlich stand einer der Sekretäre auf, nahm eine kleine Pergamentrolle und wandte sich der Gruppe zu. Er musterte die Anwesenden kurz und schien dann noch einmal den Text zu überfliegen. Dann räusperte er sich und begann mit salbungsvoller Stimme vorzutragen. „Prokonsul Aulus Gabinius begrüßt euch in der römischen Provinz Syrien." Er hielt inne und ließ den Blick von einem Mann zum anderen schweifen. Jonathan sah ihm fest in die Augen. Mit einem Mal machte ihm das Zusammentreffen mit dem römischen Präfekten keine Angst mehr. Es war fast, als hätte es den Widerstand angestachelt, den er trotz allem noch immer in sich trug. „Der Prokonsul schätzt die Bemühungen des ägyptischen Königs", fuhr der Mann fort. „Dennoch empfiehlt er der Delegation in Damaskus zu verweilen, während der Pharao selbst in Ephesus bleiben wird."

Jonathan sah den Freund fragend an, doch auch der wirkte unentschlossen. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, Distenes wollte eine Frage stellen, doch da hatte der Schreiber schon wieder das Wort ergriffen.

„Sofern ihr einen anderen Aufenthaltsort in der Provinz wünscht, sei euch dies gestattet", stellte er sachlich fest, setzte sich, nahm seine Arbeit wieder auf und würdigte die Delegierten keines weiteren Blickes.

Es wird also kein Treffen mit Gabinius geben, sagte sich Jonathan, während die Soldaten bereits die Türen öffneten und ihnen deuteten, den Raum zu verlassen. Da ihre Kleider nun nicht mehr nach Waffen durchsucht wurden, nahm der Weg zurück deutlich weniger Zeit in Anspruch und so fanden sie sich schon bald draußen vor dem Palast in der sengenden Mittagssonne wieder. Manche Diplomaten wechselten noch ein paar Worte miteinander, andere gingen gemeinsam fort. Jonathan beschränkte sich darauf, ihren Gruß knapp zu erwidern. Er hatte in den vergangenen Wochen kaum mit den anderen Männern gesprochen und so sah er auch jetzt, da ihre Mission offiziell beendet war, keine Veranlassung dazu.

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