Machärus

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Die letzten Worte hatte er laut und aufbrausend gesprochen. Silas erschauderte, denn er hatte Peitholaos noch nie so aggressiv erlebt. Jeder Satz, den er sprach, war voller Zynismus, seine Gesichtszüge schienen ihm verhärtet und unbeweglich. Silas wusste, dass Peitholaos Aristobulus und seinen Söhnen treu ergeben war und dass unter anderen Umständen nie ein Wort der Kritik über seine Lippen gekommen wäre. Doch was er in den letzten Tagen erlebt hatte, der Umstand, dass er dem Sterben seiner Soldaten hilflos zusehen musste, das überstieg selbst seine Bereitschaft zu Demut und Gehorsam.

„Aber wenn wir schon dabei sind, uns Dingen zu widmen, an denen wir uns in dieser Welt nicht mehr erfreuen werden", setzte der Feldherr sarkastisch zu sprechen fort, „dann können wir uns ebenso gut um deine Verletzung kümmern."

Silas sah ihn fragend an. Peitholaos erwiderte seinen Blick nicht, sondern griff stattdessen nach dem Lederschlauch und goss ein wenig Wein über seine Wunde. Silas zuckte unwillkürlich zusammen, erlangte aber gleich darauf seine Fassung wieder. Er beobachtete, wie Peitholaos an seinen Gürtel griff und ein Messer hervorholte.

„Was tut ihr?", fragte er und es gelang ihm nur schlecht, die Unsicherheit in seiner Stimme zu überspielen.

„Wo Eiter ist, dort entleere ihn", antwortete Peitholaos, mit einem Mal wieder freundlich und sanft. „So lehrte es einst Hippokrates", fügte er scherzend hinzu.

„Spielt es denn eine Rolle, ob ich mit oder ohne Eiter in meiner Wunde sterbe?", gab Silas spöttisch zurück.

„Nein, natürlich nicht", erwiderte Peitholaos und reinigte dabei sein Messer mit dem verdünnten Wein aus dem Schlauch. „Aber ich habe gerade beschlossen, dass du nicht sterben sollst."

„Ich werde mit euch kämpfen und an eurer Seite fallen", widersprach ihm Silas leidenschaftlich.

„Spar dir die Worte", entgegnete Peitholaos hart. „Beiß lieber die Zähne zusammen."

Dann setzte er das Messer etwas neben der Schnittwunde an, an einer Stelle, die von einer brüchigen Eiterkruste überzogen war. Silas wusste, dass es besser war, wegzusehen, doch es gelang ihm nicht. Die Hand des anderen, das Messer, es war ihm, als ob sein Blick davon magisch angezogen würde. Er sah, wie Peitholaos die Schneide sicher in sein eitriges Fleisch drückte. Er wollte schreien, doch es gelang ihm kaum zu atmen. Tränen schossen ihm in die Augen und er musste zwinkern, um weiter mitverfolgen zu können, was Peitholaos tat.

„Ich schneide die Wunde aus", hörte er den anderen leise erklären. „Damit sich der Eiter nicht weiter ausbreitet." Seine Stimme klang eigenartig unwirklich und wie aus einer großen Distanz. Silas atmete tief aus. An der Spitze des Messers hatten sich Eiter und Blut gesammelt. Beides rann nun ungehindert seinen Oberschenkel hinunter.

Alexander ist fort, sagte er sich, denn er wusste, dass er sich ablenken musste, wenn er Peitholaos noch länger mit seiner Tapferkeit beeindrucken wollte. Er ist mit einigen Hundert Soldaten in den Norden gezogen, um den Nachschub zu sichern. Er wird in Galiläa eine neue Revolte entfachen. Während Silas mit den Augen gebannt auf seinen Oberschenkel starrte, versuchte er in Gedanken fieberhaft ein paar Sätze zu formulieren, die ihm Hoffnung geben konnten. Alexander wird sich nicht ohne weiteres geschlagen geben, dachte er trotzig. Er wird die Römer in die Zange nehmen, wenn es uns nur gelingt, Machärus zu halten.

„Das Schlimmste ist vorbei...", meinte Peitholaos wohlwollend.

Silas stöhnte leise auf. Er sah, wie der andere wieder mit der Hand unter seine Tunika fuhr und etwas herausholte, das deutlich kleiner war als das Messer. Es war eine dünne Nadel wie eine Borste von einem Stachelschwein und ein Stück Faden. Er griff nach dem Lederschlauch und ließ etwas Wein über das Werkzeug rinnen, das in seinen kräftigen Händen allzu fein und unscheinbar wirkte.

„Ihr seid erstaunlich gut vorbereitet", bemerkte Silas und eine feine Nuance von Spott lag in seinen Worten. Peitholaos dagegen schwieg und setzte seine Arbeit fort. „Kann es sein, dass ihr schon zuvor entschieden habt, mich nicht kämpfen zu lassen?", fuhr Silas nach einer Weile fort und es klang wie ein Vorwurf.

„Kann sein", erwiderte Peitholaos ungerührt. Mit der linken Hand drückte er das gesunde Fleisch zusammen und mit der rechten führte er die Nadel. Silas wollte etwas erwidern, doch er wusste, dass seine Stimme zittern und es ihm dann auch nicht mehr gelingen würde, den Schmerz zu überspielen. Also blieb er stumm. Er wandte seinen Blick zum Haupttor, das im Wesentlichen aus einem Querbalken bestand, der links und rechts von zwei ungleichen, nicht besonders stabil wirkenden Steinhäufen gehalten wurde. Die Soldaten, die im Schatten der Mauerreste beisammensaßen, summten leise ihre Lieder. Es waren die Siegeslieder, die sie kurz vor dem Kampf gegen die Römer bei Alexandreion gesungen hatten. „Meine Kraft und mein Lied ist der Herr, man besingt den Sieg in den Häusern der Gerechten." Silas schüttelte traurig den Kopf.

„Es ist allzu armselig", stieß Peitholaos gepresst zwischen den Zähnen hervor, und als Silas begriff, dass sie nun schon zum zweiten Mal dasselbe gedacht hatten, fröstelte er. Er konzentrierte sich wieder auf die Nadel, die ohne ersichtliche Anstrengung in das rote Fleisch stach. Zwischen dem Blut sah Silas feine helle Linien. Als wenn das Fleisch in mehreren Schichten den Knochen umgäbe, überlegte er und versuchte noch genauer hinzusehen. Doch je angestrengter er die Wunde fixierte, desto weniger gelang es ihm, die unterschiedlichen Strukturen, die er zuvor noch zu erkennen gemeint hatte, wahrzunehmen. Vielmehr verschwamm das Bild vor seinen Augen zu einem einzigen tiefen pulsierenden Rot.

Ohne dass es dafür einen bestimmten Grund gab, musste er an ihren Aufbruch aus dem Ausbildungslager denken und daran, wie sie zum ersten Mal mit den Truppen, die Aristobolus und Alexander gesammelt hatten, zusammengetroffen waren. Damals war Silas schnell klar geworden, wie anders die Ausrüstung und die Ausbildung jener Männer im Vergleich zu der ihren waren. Während die Soldaten des Peitholaos gut bewaffnet waren und in ihrer Disziplin einer römischen Einheit um nichts nachstanden, handelte es sich bei dem Trupp der Königssöhne um schlecht ausgebildete Bauern, Tischler, Hirten und Fischer, wie er sie schon in den Reihen des Maskil kennengelernt hatte. Es waren Männer, die dort, wo sie herkamen, Hunger gelitten hatten und von dem Krieg gegen die Römer vor allem erwarteten, dass ihr Heerführer ihnen zu essen geben würde. Und dann gab es noch jene, die sich weder um ihre Nahrung noch um ihre Ausrüstung scherten und die nur den einen brennenden Wunsch in ihrem Herzen trugen, die Römer zu vernichten.

„Woran denkst du?", fragte ihn Peitholaos, der die Nadel inzwischen wieder eingesteckt hatte und abermals Wein über Silas Verletzung goss.

„Daran, wie wir uns damals über die Qanaim unterhalten haben", erwiderte Silas leise.

„Über die Eiferer." Peitholaos nickte. Er tastete vorsichtig den Bereich neben der Wunde ab, als wollte er sich vergewissern, dass er den ganzen Eiter entfernt hatte.

„Wir haben darüber gesprochen, dass sie bis zuletzt kämpfen und niemals fliehen", fuhr Silas nachdenklich fort.

„Und darüber, dass sie sich nicht führen lassen und deshalb für den Krieg nicht taugen", stellte Peitholaos fest und es klang bitter.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt