Ein Ausflug

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„Nein", erwiderte Silas und fügte stockend hinzu: „Ich will wissen, wie er gestorben ist. Bitte..."

Peitholaos nickte. Er hatte aufgehört, Silas zu streicheln und spielte jetzt gedankenverloren mit einer seiner blonden Locken. Sein linker Arm ruhte noch immer auf der Schulter des anderen. Er ist so ruhig, sagte sich Silas, ganz anders als er es sein müsste, wo er an einem Abgrund steht in der Erwartung des eigenen Todes.

„Das Lärmen der Kämpfe drang von draußen durch die dicken Mauern der Baris und wir wussten, dass es nicht lange dauern konnte, bis die Soldaten des Hyrkan bei uns eintreffen würden. Einen halben Tag vielleicht, einen ganzen oder zwei? Ich hatte gehört, dass Antipater ihr Kommando führte und dass er ein Mann war, der keine Gefangenen macht. Ich wollte kämpfen und ich war bereit zu sterben. An der Seite des Mannes, den ich über alles verehrte und liebte."

Peitholaos stockte. Sein Atem ging schwer. Er spricht vom Heldentod deines Vaters, ermahnte sich Silas innerlich. Und du hast nichts Besseres zu tun, als um dein eigenes Leben zu jammern.

„Aber dann," wieder unterbrach sich Peitholaos. Er war ihm anzusehen, dass es ihm schwerfiel, Worte für seine Erinnerung zu finden, „hat er mich fortgeschickt. Er hat mir befohlen, dich und deine Mutter in die Berge zu bringen. Zuerst habe ich mich geweigert, aber dann bin ich gegangen. Ich weiß bis heute nicht, warum. Manchmal, an den guten Tagen, sage ich mir, dass es wichtig war, eine unschuldige Frau und ihr Kind zu retten. Und an den schlechten Tagen, denke ich, ich bin gegangen, weil ich feige war und nicht sterben wollte." Peitholaos wartete. Er hatte beide Hände in Silas volles Haar gelegt und seinen Kopf nah an sich herangezogen. Er war etwas größer als Silas und berührte nun mit seinem Nasenrücken dessen Stirn.

„Du warst noch ein Kind", flüsterte er, „Du hast nicht verstanden, was passiert. Ich habe dir erklärt, dass wir einen Ausflug machen werden. Dass dein Vater mir gesagt hat, du seist ein wilder kleiner Junge, der Abenteuer liebt. Du hast mir geglaubt und wir sind aufgebrochen. Du erinnerst dich nicht, oder?"

Silas schüttelte leicht den Kopf und Peitholaos nickte. „Am Tag darauf bin ich nach Jerusalem zurückgekehrt. Die Männer des Hyrkan sind mir entgegen gestürmt. An ihren Händen war Blut." Silas zitterte. Die Stimme des anderen war mit einem Mal hart und teilnahmslos geworden. „Sie haben mich festgehalten und ich wusste, dass sie mich töten wollten. Also habe ich gerufen: Gott segne Hyrkan, unseren Hohenpriester! Und sie haben mich losgelassen. Dann bin ich gerannt, so schnell ich konnte. Ich konnte an nichts anderes denken als an deinen Vater. Doch noch bevor ich die letzten Stufen genommen hatte, sah ich ihn tot am Boden liegen."

Peitholaos seufzte leise. Dann fuhr er Silas noch einmal mit beiden Händen durch die Haare, bevor er auch die letzte Distanz zwischen ihnen aufgab und ihn in einer engen Umarmung an sich zog. Silas legte den Kopf auf seine Brust. Trotz der Rüstung, die Peitholaos trug, meinte er dessen Herzschlag zu spüren. Er versuchte die wenigen Erinnerungen, die er an seinen Vater hatte, heraufzubeschwören, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Also schloss er die Augen und wartete, bis Peitholaos weitersprechen würde.

„Später habe ich erfahren, dass er den Soldaten unbewaffnet entgegengegangen ist", sagte der endlich. „Er allein. Er hat vorgetäuscht, dass Aristobulus verhandeln wolle und ihn als Boten gesandt hätte. In der Zeit, die die Soldaten gebraucht haben, um die Lüge zu durchschauen, konnten die übrigen Priester mit der Frau und den Kindern fliehen."

„Sie kommen!" Es war der Schrei von einem einzigen Mann und doch löste er ein gewaltiges Echo an Rufen, Befehlen und verzweifeltem Klagen aus.

Auch Silas und Peitholaos hatten die Botschaft gehört. Silas rechnete damit, dass Peitholaos ihn sofort loslassen würde. Denn auch wenn die Schlacht verloren war, würde er die Festung doch nicht kampflos aufgeben. Außerdem musste sich die Aufmerksamkeit der übrigen Soldaten spätestens jetzt auf die beiden Männer richten, die scheinbar unbeirrt von den Ereignissen auf einem Vorsprung der Außenmauer ausharrten. Doch Peitholaos blieb unbeweglich stehen. Es schien Silas sogar, als ob er seinen Oberkörper noch enger an den seinen drücken würde, ganz als wären sie nicht zwei, sondern ein einziger Leib. Dann ließ er ihn los, löste das blaue Tuch, das er um den Hals trug, und hielt es ihm hin.

„Soll das ein Abschiedsgeschenk sein, Herr?", fragte Silas unsicher.

„Hör zu, mein Junge", flüsterte Peitholaos ihm ins Ohr. „Wenn du kämpfen willst, dann bleib hier, nimm dir ein paar Männer und schütze die linke Flanke. Ich werde versuchen, die Festung zu halten, bis die Dämmerung anbricht. Dann wirst du an deinen Vater denken und daran, dass du einen Ausflug machen sollst, so wie damals." Er unterbrach sich kurz und das Rufen der Soldaten drang nun wieder mehr zu Silas Bewusstsein durch. „Dort hinter der Zisterne kletterst du über die Mauer und steigst den Abhang zum Asphaltsee hinunter", fuhr Peitholaos beschwörend fort. „Der Weg ist steil, aber der Herr, unser Gott, wird mit dir sein."

Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, ließ er Silas los, trat einen Schritt zurück und zog sein Schwert. Er war wieder stolz, überlegen und unbeirrt. Er war der Mann, der die Juden in ihren letzten Kampf führen würde. Auch Silas hatte sich aufgerichtet, die Gurte um seinen Brustpanzer festgezogen und das blaue Tuch um seine Stirn gebunden. Er war wütend und wusste dabei nicht, gegen wen sich sein Zorn richtete.

„Sind das also meine Befehle, Herr?", fuhr er Peitholaos schroff an. „Dass ich meinen rechtmäßigen König und seinen Heerführer verraten und wie ein Feigling fortlaufen soll?"

Peitholaos lachte auf. Er stand noch immer eine Armeslänge von Silas entfernt auf dem Felsvorsprung, gut sichtbar für die seinen wie für die Feinde. Die kurze Strecke von der Oase bis zum Fuß des Festungshügels, die eben noch still unter ihnen gelegen hatte, war voll mit Menschen, Pferden und Kriegsgefährt. Und auch im Hof der Burg rannten die Männer aufgebracht durcheinander. Alles um sie herum schien in Bewegung, nur Peitholaos stand still und beobachtete den Jungen ihm gegenüber mit einem sanften, gütigen Ausdruck in seinem Gesicht.

„Also gut", rief er ihm schließlich mit fester Stimme zu. „Ich gebe dir einen Befehl, der dir besser gefallen wird. Geh und finde Alexander! Er sammelt sich in Galiläa. Die Römer haben noch nicht gewonnen. Das blaue Tuch wird euch als Erkennungszeichen dienen."

„Herr, Herr!", unter aufgeregtem Schreien kam eine Gruppe von Soldaten auf Peitholaos zu gerannt.

Peitholaos wandte sich ihnen zu, doch bevor er zu ihnen auf den Boden sprang, zischte er Silas noch etwas zu: „Rette so viele Männer, wie du kannst!"

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt