Ein Spiegelbild der Erkenntins

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SCHMERZ. Er ist ein Verfechter, dem man selten etwas entgegenzusetzen hat. Er schlägt einfach zu, wie eine hungrige Natter, ohne jede Vorwarnung. Es kümmert ihn nicht, wie schwer er dich treffen wird. Es kümmert ihn nicht, wie sehr er dich verletzen wird. Ihm ist klar, dass er dich vertilgen, vernichten und verdunkeln kann.
Du kannst dich nicht gegen ihn wehren oder gar davonlaufen, früher oder später holt er dich wieder ein. Und dann liegt es an dir, darum zu kämpfen - wegen ihm - nicht ein Schatten deiner Selbst zu werden.

Vorsichtig kraulte ich das kleine Wollknäuel auf meinem Schoß, dass sich zusammengerollt und friedlich die winzigen Äuglein geschlossen hatte.
Es hatte mich einiges an Überwindung gekostet, Sofía, das Frettchen von Marseille, so ohne Sorge berühren zu können, doch nun, da ich um die Gutmütigkeit des Tieres wusste, hatte ich kaum noch Bedenken.

In den Momenten, in denen ich das Gefühl hatte, mir all diesen Frust, all diese schrecklichen Gedanken von der Seele reden zu müssen, schlich ich mich zu dem Käfig und leistete ihr Gesellschaft.
Ich bezweifelte, dass ich eine besonders gute war, aber sie beschwerte sich nie. Warum auch? Immerhin brachte ich ihr als kleine Entschädigung immer etwas zum Knabbern mit.

»Ich muss wohl ziemlich einschläfernd sein, was, Sofía?«, murmelte ich, als ich ihre tiefen, gleichmäßigen Atemzüge bemerkte. »Manchmal, da beneide ich dich um deinen ruhigen Schlaf...«

»Hättest du diese Ruhe denn überhaupt verdient?«

Ein bitterer Geschmack liegt auf meiner Zunge und ein entferntes Knistern dringt zu mir herüber. Flackerndes Licht erhellt schemenhaft zwei auf dem Boden liegende Gestalten.

Ich riss meinen Kopf hin und her, um den Schwindel loszuwerden, der sich langsam in meinem Schädel ausbreitete, jedoch verklang er nicht. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen und drohten mir wie ätzende Säure meine Wangen herunterzulaufen. Schon spürte ich die bösen Vorboten jenes Szenarios in meinem Hals zu einem schrecklichen Kloß heranwachsen. Sie raubten mir bereits den Atem.

Ein entferntes Rauschen dringt zu meinen piependen Ohren herüber. Bald übertönt es das penetrante Geräusch gänzlich. Ich höre das sanfte Flüstern des Meeres, des tiefen, dunklen Meeres. Wild durchströmt es meine Gedanken, färbt sie finster.
Ich sinke.
Ich falle.
Ich verliere mich...

Eine ruckartige Bewegung riss mich aus der Fantasievorstellung.

Erschrocken schrie ich auf, als Sofía leise quiekend von meinem Schoß heruntersprang. Entsetzt und mit rasendem Herzen, bohrte ich meine Fingernägel in das Polster des Stuhles. Erst als der Schock sich gelegt und das Poltern in meiner Brust wieder einen normalen Ausmaß angenommen hatte, löste ich meine Hände von der hölzernen Sitzmöglichkeit.
Der verwirrte und zugleich verängstigte Blick des Frettchens ruhte unterdessen unentwegt auf mir. Mir schien, als könnte es genau spüren, was in mir vorging - dass ein Sturm in mir aufzog.

»Verzeih mir, Sofía.«, murmelte ich mit erstickender Stimme und bückte mich, um das verschreckte Tier wieder in seinen Käfig zu setzen. Zögerlich schnupperte sie an meinen zitternden Fingern, dann ließ sie sich von mir in den Arm nehmen. Behutsam setzte ich sie in ihr vergittertes Zuhause und versuchte kläglich, den Kloß in meinem Hals loszuwerden.

Ich wand mich von dem Käfig ab, denn ich konnte den Anblick des erschrockenen Frettchens - oder besser gesagt mein bleiches Gesicht, das sich in ihren braunen Augen spiegelte - nicht länger ertragen.

»So viel Schmerz für ein so kleines Kind.«, belächelte die Flut mich.

Ein Schauer rieselte meinen Rücken herunter und eine Träne kullerte hinterher. Der bittersüße Geschmack des Salzwassers breitete sich auf meiner fahlen Zunge aus. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um das letzte bisschen Kontrolle zusammenraffen zu können, das sich noch in meinem bebenden Leib befand, dann wand ich mich ab und flüchtete aus dem Raum.

Goldene Erinnerungen | LCDPWo Geschichten leben. Entdecke jetzt