Es gab nur ein einziges Bett in dem Raum. Eine junge Ärztin stand daneben und verdeckte mir die Sicht auf Moms Gesicht.
Als sie hörte, wie wir den Raum betraten, wandte sie sich zu uns um und lächelte uns freundlich an. „Sie sind die Familie?“, fragte sie, während sie ihre Gummihandschuhe auszog und sie auf einen kleinen Rollwagen legte.
Grandpa nickte bestätigend.
Die Ärztin, Mrs Odland, wie mir ein kleines Plastikschild, das an ihrem Kittel befestigt war, verriet, drehte sich wieder zum Bett meiner Mom herum und blickte auf sie hinab.
Wir standen noch immer kurz neben der Tür. Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Einerseits wäre ich am liebsten zu Mom gestürmt, hätte sie ganz fest umarmt und nie wieder losgelassen, andererseits hatte ich Angst davor sie zu sehen. Bereits die letzten Tage über hatte sie immer schlechter ausgesehen, man sah ihr also bestimmt auch jetzt an, wie schlecht es ihr ging, schließlich lag sie im Krankenhaus.
„Wie geht es ihr?“, fragte Granny leise und trat ein paar Schritte hinüber zum Bett. Dabei ließ sie meine Hand los und von einer Sekunde auf die andere, fühlte ich mich unglaublich einsam und schutzlos.
„Sie schläft.“, erwiderte die Ärztin, doch sie sah besorgt aus. Auch Granny schien es zu bemerken.
„Und was hat sie?“, forschte sie nach und nun sah auch sie auf meine Mom hinab.
„Mrs…“, sagte die junge Frau.
„Anderson“, sprang Grandpa ihr zur Hilfe.
„Mrs Anderson“, begann die Ärztin erneut, „Es mag merkwürdig klingen, aber wir wissen es nicht. Ihre Tochter-“
„Schwiegertochter“, verbesserte Granny, „Sie ist meine Schwiegertochter.“
„Ihre Schwiegertochter hat keine der üblichen Krankheiten. Keiner der Ärzte, die sie in den letzten Stunden untersucht haben, konnte sagen, was ihr fehlt.“
Sie wandte sich an mich: „Sie ist deine Mutter, nehme ich an?“
Ich nickte und trat nun auch ein paar Schritte vor. Moms Gesicht war blass, es schien schon fast mit den weißen Bettlacken zu verschmelzen und hob sie stark von ihren dunklen Haaren ab. Ich griff nach ihrer Hand, sie war kalt.
„Hast du in letzter Zeit irgendetwas bemerkt?“, fragte Mrs Odland.
„Sie hat viel gearbeitet, in den letzten Wochen.“, sagte ich und Granny blickte grimmig drein, „Seit ein oder zwei Wochen sah sie schon nicht so gut aus und als ich sie gebeten habe zum Arzt zu gehen, hat sie gesagt, der habe ihr nicht helfen können. Ich habe sie angefleht sich ein paar Tage frei zu nehmen, als es schlimmer wurde, aber sie hat nur gemeint, es würde schon besser werden.“
Meine Stimme war leise und selbst ich hörte das Flehen darin. Als würde ich die Ärztin darum bitten mir zu versichern, dass es Mom bald wieder gut gehen würde.
Sie schob die Hände in die Taschen ihres strahlend weißen Kittels und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Mir entging nicht, dass sie mir nicht in die Augen sah.
„Warum hat dein Vater sie nicht her gebracht? Sie hätte schon eher Behandlung gebraucht!“, fragte die Ärztin und sah auch meine Großeltern fragend an.
„Weil mein Sohn nicht mehr lebt.“, antwortete Grandpa nach dem ein paar Sekunden der Stille verstrichen waren. In seiner Stimme schwang eine Kälte mit, die ich bei ihm noch nie gehört hatte.
Mrs Odland riss erschrocken die Augen auf.
„Es tut mir leid, Mr Anderson!“, flüsterte sie und ich sah den Schock in ihren Augen. Lag es daran, dass mein Vater tot war oder daran, dass sie sich schämte für das, was sie gesagt hatte?
Einige Augenblicke herrschte ein peinliches Schweigen, dann erkundigte Granny sich, wie es mit Mom weiter gehen würde.
Mrs Odland blickte wieder auf ihren, unter Decken versteckten, Körper hinab und griff nach ihren Handschuhen. Sie drehte und wendete sie in ihren Händen und schien zu überlegen, was sie als nächstes sagen sollte.
„Ich kann es ihnen nicht sagen.“, brachte sie schließlich hervor.
Ich sah sie an und dieses Mal wich sie meinem Blick nicht aus. Es war schwer zu sagen, was in ihr vorging. Was wollte sie damit sagen?
„Und Ihre Kollegen? Können die etwas genaueres sagen?“, wieder schwang Verzweiflung in meiner Stimme mit.
Die junge Ärztin blickte zu Boden und schüttelte kaum merkbar den Kopf.
„Aber Sie müssen doch wissen, was jetzt passiert! Wie lange muss sie hier bleiben, was wird gemacht, damit es ihr besser geht?“
In mir brodelte es. War es Wut oder einfach nur die Angst um meine Mom?
Ich war es gewohnt alleine zu Hause zu sein, doch schlussendlich war Mom immer wieder aufgetaucht.
„Mädchen, ich verstehe ja, dass du dir Sorgen um deine Mom machst, aber wir können nicht sagen, was sie hat.“, Mrs Odland klang mittlerweile ein wenig genervt und strich sich nervös eine kurze blonde Haarsträhne hinters Ohr, „Wir wissen wirklich nicht, worum es sich handelt! Das merkwürdigste ist, dass wir zurzeit einen anderen Patienten hier haben, bei dem es genauso ist. Von Tag zu Tag geht es dem Mann schlechter, aber er hat keine uns bekannte Krankheit.“
Sie ließ die Handschuhe wieder auf das Wägelchen fallen und ging dann hinüber zur Tür. Sie hatte sie schon geöffnet und war auf den Flur hinaus getreten, als sie sich noch einmal umdrehte.
„Sie wird einfach hier bleiben müssen und wir hoffen, dass sie sich erholt, mehr können wir momentan nicht tun.“
Damit zog sie die Tür hinter sich zu und wir hörten ihre Schritte den Gang hinunter verschwinden.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meinen Blick von der Tür abwenden konnte. Ich sah, wie Granny und Grandpa sich verstohlene Blicke zuwarfen. Es war offensichtlich, dass sie mich nicht noch mehr beunruhigen wollten, aber gleichzeitig sah man ihnen die eigene Sorge viel zu deutlich an.
Ohne Vorwarnung schlang ich Granny die Arme fest um den Hals. Sie schnappte überrascht nach Luft, tätschelte mir dann aber den Rücken. So sehr ich es auch unterdrücken wollte, begannen Tränen über mein Gesicht zu laufen und schon nach wenigen Sekunden hatten sich große nasse Flecken auf Grannys Oberteil gebildet.
„Schhh, Mia.“, Granny strich mir sanft über den Kopf, „Es wird ihr wieder besser gehen! Sie ist stark, du kennst sie!“
Ich fragte mich, woher sie die Zuversicht nahm, wo Mom doch gerade regungslos und gespenstisch blass neben uns lag, während irgendwelche Krankenhausgeräte piepten.
„Und was, wenn nicht?“, schluchzte ich, „Was, wenn sie nicht wieder gesund wird? Wenn es zu spät ist und sie zulange gewartet hat?“
Grannys Schweigen war so viel schlimmer, als alles, was sie hätte sagen können. Schlimmer als jedes Wort der Hoffnung, obwohl ich nur schwarze Leere in mir fühlte und schlimmer, als Besänftigungen oder sogar als die Bestätigung meiner Ängste.
Für mich war Granny schon immer wie ein Rettungsanker gewesen, ein Fels in der Brandung, an dem ich mich hatte fest klammern können, als mir alles zu viel wurde. Sie hatte mir Worte des Trosts geschenkt, hatte immer ein offenes Ohr für mich und war die Zuversicht in Person. Wenn Granny an etwas glaubte, dann war es möglich, dann konnte es passieren.
Zu sehen, wie selbst sie nicht mit ihrer sonstigen Sicherheit widersprach und mir noch einmal sagte, dass es Mom gut gehen würde, ließ etwas in mir zerbersten. Vielleicht war es meine Hoffnung. Vielleicht meine Überzeugung davon, dass alles ein gutes Ende nahm. Oder vielleicht war es auch mein Herz.
Ich konnte nicht einschätzen, wie schlimm es um Mom stand. Ob ihr Leben in Gefahr war oder ob sie schon in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein würde. Vielleicht hatte ich so panische Angst sie zu verlieren, weil ich bereits Dad verloren hatte. Weil ich dann alleine wäre.
Ich drehte mich in Grannys Armen und blickte zu Mom.
Ihr blasses Gesicht zeugte von Erschöpfung und Schmerz. Ich starrte sie an, meine Augen schwammen noch immer vor Tränen. Nur wie durch einen Schleier bekam ich mit, wie Granny und Grandpa ein paar Worte wechselten.
Es konnte nicht wichtig sein, oder? Alles was zählte, was mich in diesem Augenblick interessierte, war Mom.
Nach einigen Minuten bekam ich mit, wie Grandpa sich ächzend auf einen Stuhl sinken ließ, Granny ging hinüber zum Fenster und schob den Vorhang ein Stück zur Seite um hinaus spähen zu können.
Ich kniete mich auf den Boden neben Moms Bett und griff erneut nach ihrer Hand. Unentwegt rannen Tränen über mein Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, doch irgendwann kam eine Ärztin in das Zimmer.
Es war nicht Mrs Odland. Diese hier war deutlich älter, rundlich gebaut und hatte dunkle Haut und schwarzes krausiges Haar.
Sie wechselte ein paar Worte mit Granny und machte sich dann an Moms Bett zu schaffen.
„Ich denke, es ist an der Zeit nach Hause zu gehen, Mia.“, sagte Granny sanft. Ich sah sie an, vorsichtig wischte sie mir die Tränen von den Wangen und hielt mir dann ihre Hand hin um mir aufzuhelfen.
„ich will nicht weg von hier! Ich kann sie nicht alleine lassen!“, flüsterte ich und sah sie flehend an.
„Wir kümmern uns gut um sie!“, sagte die Ärztin ruhig. Sie lächelte mich aufmunternd an, auch wenn ich in ihren Augen Trauer erkennen konnte.
Ich presste die Lippen auf einander und unterdrückte einen neuen Schwall an Tränen. Dann nickte ich und griff nach Grannys Hand.
An der Tür blickte ich noch einmal auf Mom zurück. Mein Herz schrie laut ich solle sofort zu ihr zurück rennen, doch Granny drückte meine Hand und zog leicht daran um mir zu bedeuten mit zu kommen.
„Ich liebe dich, Mom!“, sagte ich so leise, dass wahrscheinlich nicht einmal meine Großmutter direkt neben mir es verstehen konnte.
Der Weg durch das Krankenhaus und über den Parkplatz, zurück zum Auto, kam mir unendlich lang vor. Meine Beine fühlten sich schwer wie Blei an.
Die Landschaft zog wie ein bunter Schleier am Fenster vorbei.
„Mia, Kind, möchtest du mit zu uns kommen?“, fragte Grandpa, als wir das Ortsschild von Hampton gerade hinter uns gelassen hatten.
Ich schüttelte den Kopf, „Nein, schon okay.“
„Bist du sicher, Liebling?“, fragte Granny besorgt.
„Ja, wirklich! Ich komme klar!“, versicherte ich.
„Ruf an, wenn irgendwas ist!“, verlangte sie.
Grandpa hielt vor unserem Haus und ich kletterte aus dem Auto. Als ich mich noch einmal hinein beugte um meinen Rucksack zu holen, sagte Granny: „Ich habe vorhin mit Sylvia telefoniert, sie hat gesagt, dass sie so schnell, wie möglich herkommt. Mach´s gut, Mia.“
Ich nickte nur benommen und schlug die Autotür zu.
Grandma Sylvia machte sich auf den Weg? Sie wohnte in den USA, an der Ostküste. Die Strecke war so lang, dass sie uns sonst höchstens dreimal im Jahr besuchen kam. Ich hatte sie noch nie zuhause besucht.
Granny und sie mussten sich wirklich große Sorgen um Mom machen!
Das Auto meiner Großeltern verschwand um die Straßenecke und ich ging langsam die Stufen zur Haustür hinauf.
Es war komisch zu wissen, dass Mom nicht da war, aber auch nicht kommen würde, wie sonst immer.
Ich ließ den Rucksack meinen Arm hinab gleiten und stellte ihn neben der Treppe ab, dann ging ich ins Wohnzimmer und rollte mich auf dem Sofa zusammen.
Eine Weile vergrub ich mich einfach in einer unserer super weichen Decken, dann zog ich mein Handy aus der Hosentasche und schaltete es nach kurzem Zögern an.
Ein Haufen Benachrichtigungen ploppte auf dem Bildschirm auf. Ich entsperrte das Handy und öffnete den Messanger. Meine Freundinnen erkundigten sich alle, was los sei und ob es mir gut ginge. Cleo hatte den Anderen anscheinend erzählt, wie die Sekretärin mich aus dem Unterricht geholt hatte.
Mein Herz machte einen Hüpfer, als ich entdeckte, dass auch Liam mir geschrieben hatte.
Zuerst beantwortete ich die Nachrichten von Cleo, Bea und Alicia, dann versicherte ich Granny, dass alles gut sei.
Am liebsten hätte ich Liam gebeten mich zu treffen, aber ich hatte das Gefühl, dass wir uns dafür noch nicht gut genug kannten. Gleichzeitig schrie ein Stimmchen in mir, dass es egal sei, dass ich ihn mochte.
Ich beließ es bei einer Nachricht und rief stattdessen Charlie an.
Ich hatte das Gefühl, dass sie bereits in der Sekunde abnahm, in der ich auf anrufen geklickt hatte.
„Mia?“, sie klang besorgt.
„Ja.“, sagte ich, auch, wenn es sinnlos war, schließlich hatte ich sie ja angerufen und sie wollte mit ihrer Frage nicht herausfinden, ob ich es war, die sie anrief.
„Was ist los? Geht es dir gut?“, die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor und es schien, als würde sie kein einziges Mal Luft holen.
„Mom ist im Krankenhaus.“, sagte ich.
Nicht mehr. Kein drumherum Gerede. Keine unnötigen Worte. Nur, das, was zählte.
„Was?“, ich konnte den Schock in ihrer Stimme nur allzu deutlich hören, „Was ist los?“
In diesem Moment fiel mir auf, dass ich Charlie noch nicht einmal erzählt hatte, wie schlecht es Mom in letzter Zeit ging.
Warum hatte ich nicht daran gedacht meiner besten Freundin davon zu erzählen?
Liam. Schon seit Tagen schwirrte er in meinem Kopf umher. In der Schule war es nie ruhig genug gewesen um mich ernsthaft mit Charlie zu unterhalten und Nachmittags hatte ich nach den Hausaufgaben an Liam gedacht und war Abends oft am Strand gewesen. Wo ich Liam getroffen hatte. Ich hatte Charlie schlichtweg vergessen.
Reue überkam mich und rasch brachte ich sie auf den neuesten Stand.
„Scheiße!“, sagte sie, als ich fertig war, „Bist du okay?“
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The Secrets Hidden In Your Shadows
FantasiAls Mias Mutter plötzlich schwer krank wird - die Ärzte können ihr Überleben nicht garantieren - bricht für Mia eine Welt zusammen. Sie setzt alles daran einen Weg zu finden, wie ihre Mutter wieder gesund werden kann. Dabei stößt sie auf einige neu...