Entmutigt lasse ich mich auf meine Knie sinken, stütze mich mit meinen Händen am Boden ab und kralle mich mit ziemlich letzter Kraft im Beton fest. Ein langes und hohes Quietschen entsteht, als ich mit Hilfe meiner teils abgebrochenen Nägeln über den grauen Boden kratze. Flacher Atem und hoher Herzschlag. Die Augen geschlossen, fluche ich über mich selbst. Hätte ich mich damals nicht teleportiert, wäre das ganze hier nie passiert. Niemand hätte mich gefoltert. Ich hätte diese ganzen Menschen nicht gesehen. Die Leiche des Jungen oder das gefolterte Mädchen. Und doch sitze ich jetzt auf dem kalten Boden. Umringt von zerstückelten Leichen.
Tränen fließen mir unaufhörlich über das Gesicht. Vor mir bilden sich unrealistische Bilder, in denen ich hoch in den Himmel schwebe, mit Flügeln und Heiligenschein. Allerdings trage ich einen blutroten Mantel und schwarze, transparente Handschuhe, die meine blasse Haut betonen. Nichts an mir wirkt wie bei einem Engel, ich sehe lediglich aus wie der ängstliche Teufel, der auf dem Weg in den Himmel ist. Ein Knallen löst mich aus dieser Trance.
Als ich aufblicke, sehe ich ein an die Wand gehängtes Skelett über dem das Jahr 1894 in einer verblichen weißer, abgebröckelten Schrift geschrieben ist. Ein Pfeil wurde durch die Stirn des Schädels in die dahinterliegende Wand gesteckt, welche verblassene Spuren von Blut oder anderen Konsistenzen aufweist. Seine Halswirbel sind an einer Stelle glatt durchschnitten, wodurch der Schädel nur den schmutzigen Pfeil als hilfreiche Stütze besitzt. Die mit Nägeln an der kalten Mauer befestigten Hände liegen einige Zentimeter über dem Kopf. An all seinen Knochen finden sich Kratzer, tiefere Schnitte oder sogar Löcher.
Mein Blinzeln unterbricht die Ansicht, aber ich erlange sie sofort zurück. Ein Holzpfahl zersplittert sein Brustbein und mehrere Rippen, doch hält seinen Rumpf an der Wand. Sein Kiefer hängt halb aus dem Gelenk, was mich dazu führt, mir das Klappern seiner Zähne, als ihm während der Folter Angst ergriff, vorzustellen. Seine beiden Oberschenkel sind ebenfalls mit Nägeln an die Wand genagelt und wurden wahrscheinlich mit etwas Scharfem dem Becken entwendet. Außerdem stecken auch in den Unterschenkeln kleine in die Wand geschlagene Nägel.
Neben seinem Kopf wurde ein altes, krüppeliges und verschrumpeltes Etwas in den grauen Beton genagelt. Nach kurzem Erinnern an das letzte Photo des einen Jungen, fällt mir ein, dass dieses kleine, eingegangene Ding sein Herz ist. Über 100 Jahre hängt dieses Skelett hier. Der seltsame Geruch hat mir meinen Magen umgedreht, das Abbild der Knochen hingegen ist ertragbar, weil ich bis jetzt schon Schlimmeres gesehen habe. Aber wovor ich mich am Meisten fürchte, ist, dass um mich herum an den Wänden des Raumes weitere 120 Leichen genagelt sind.
Knurren unterbricht die beunruhigende Stille. Sofort horche ich auf und spanne meine Muskeln an, als mir das Adrenalin durch die Adern schießt. Mein Blick bleibt bei den dunklen Augenhöhlen des Skeletts hängen. Ich sehe die traurig glitzernden, weit geöffneten und mit Tränen gefüllten Augen des Jugendlichen am Zeitpunkt seines Todes vor mir und schüttele den Gedanken an zerstörte und kaputte Menschen sogleich ab. Diese auf mir lastende Leere, die Ruhe vorm Sturm, breitet sich unglaublich schnell in mir aus und lässt eine besondere Stelle in meiner Brust gefrieren. Ein weiteres Knurren.
Rasend schnell pumpt mein schlagendes Herz das Blut durch jedes einzelne Äderchen in meinem Körper und ein weiteres Mal macht sich die Wirkung des Adrenalins bemerkbar.
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Ich, die Auserwählte
Mistero / ThrillerIch bin geschockt, als ich aufwache und mich selber blutend am Boden liegen sehe. Ich sehe mich sterben und stürze daraufhin in ein gefährliches Abenteuer, das mich leiden und mehrmals verzweifeln lässt.