Der verlorene Sohn

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Jerusalem, Spätsommer 56

Schlomo hatte von Jonathans Rückkehr erfahren, als sein Sohn noch einen Tagesmarsch von Jerusalem entfernt war. Vielleicht waren es die Spitzel des Herodes gewesen, die Jonathan die ganze Zeit über beobachtetet hatten, vielleicht aber auch Männer aus den Reihen des Alexander. Schlomo kannte sie nicht, aber er machte sich sofort gemeinsam mit Daniel und einem halben Duzend Knechten auf den Weg und erreichte das kleine Dorf im Norden, in dem sich die Karawane niedergelassen hatte, noch bevor der Morgen angebrochen war. Jonathan hatte sich in den Tagen und Wochen zuvor oft vorgestellt, wie es sein würde, den Vater wiederzusehen, was er ihm sagen und wie er sich auf diesen oder jenen Vorwurf, den er von ihm erwartete, rechtfertigen würde. Als er ihm dann gegenüberstand, war ihm sofort klar, dass nichts von dem, was er sich mühsam zurechtgelegt hatte, brauchbar war.

Schlomo war der erste Reiter, den Jonathan sah, als er sich gerade am Brunnen wusch und sich aufrichtete, weil er wissen wollte, warum draußen auf der Straße bereits so früh am Tag Hufgetrampel zu hören war. Jonathan starrte ihn an und war zugleich unfähig, etwas zu sagen, geschweige denn, auf den Vater zuzugehen, selbst wenn der, so schien es ihm zumindest, bei seinen letzten Schritten ein wenig die Arme ausgebreitet hatte. Doch zum Glück musste Jonathan nicht länger überlegen, denn in dem Moment wurde er schon von Daniel umgerannt, der von seiner noch trabenden Stute gesprungen war und Jonathan mit so viel Schwung umarmte, dass sie beide Probleme hatten, sich auf den Beinen zu halten. Während er und Daniel sich bald lachend, bald weinend in den Armen lagen, beobachtete Jonathan aus den Augenwinkeln seinen Vater. Er wartete, von seinen Knechten umgeben, neben dem Brunnen und machte dabei einen eigenartig hilflosen Eindruck. Sein Gesicht war müde und er wirkte mitgenommen, was nicht verwunderlich war, denn sie waren die ganze Nacht geritten und hatten kaum geschlafen.

Nun stand Jonathan im Hof des väterlichen Anwesens und beobachtete das rege Treiben um ihn herum. Denn Schlomo hatte entschieden, für seinen nach Hause gekehrten Sohn eine große Feier zu veranstalten. Ständig schienen neue Gäste einzutreffen, sie lachten, tranken, die einen umarmten Jonathan herzlich, andere waren freundlich, aber distanziert, manch einer wollte wissen, wie es ihm in Rom ergangen war. Die Tische bogen sich unter den Köstlichkeiten, an mehreren Orten spielten Musiker, kurzum es war ein rauschendes Fest, wie es Jonathan Schlomo nie zugetraut hätte, verachtete der Vater Ausschweifungen und Maßlosigkeit doch als Zeichen von Gottlosigkeit und Verdorbenheit. Da entdeckte er ein vertrautes Gesicht in der Menge.

„Micha", rief er überrascht. „Was machst du denn hier?"

Micha kam auf Jonathan zu, fasste ihn zum Gruß fest am Unterarm, wirkte ansonsten aber verlegen, wie Jonathan verwundert feststellte. Denn Micha war für gewöhnlich selbstbewusst und voller Leben. Wie alle Seraja-Kinder, sagte er sich und der Gedanke verursachte ihm einen stechenden Schmerz in der Brust.

„Deine Schwester hat mich eingeladen", antwortete Micha vorsichtig und Jonathan musste unwillkürlich grinsen. Jetzt war ihm auch klar, warum Tabithas sonst so lauter Bruder, den er immer dafür bewundert hatte, wie wenig er sich aus dem Gerede der Leute machte, auf einmal unsicher war.

Er klopfte dem anderen brüderlich auf die Schultern und meinte scherzend: „Dann wird es ja vielleicht doch noch etwas mit der Verbindung zwischen unseren Familien."

Micha blickte auf den Boden. „Das hatte ich gehofft", gab er leise zurück, hob den Blick und sah Jonathan beinahe bittend in die Augen. „Denn meine Absichten sind ernsthaft", flüsterte er.

„Was hast du, Micha?", fragte er verständnislos. „Habt ihr gestritten?"

„Nein", stammelte der andere, „aber sie sagt, jetzt wo du zurück bist." Er unterbrach sich kurz. „Müssen wir abwarten, was du von der Sache hältst. Rachel meint, dass du..." Er stockte, wandte den Blick wieder ab.

„Micha, was redest du da?", rief Jonathan aus. „Ich habe schon so viel Unheil verursacht. Denkst du, ich will auch noch dem Glück meiner Schwester im Weg stehen?"

Micha zuckte hilflos mit den Achseln. „Würde es dich nicht stören", setzte er zaghaft an, doch Jonathan ließ ihn nicht ausreden.

„Nein", unterbrach er ihn mit Nachdruck, „natürlich nicht. Und selbst wenn, was für eine Rolle würde es spielen?"

„Bevor dein Vater aufgebrochen ist, hat er deine Geschwister zu sich gerufen", antwortete Micha. Er sprach nun leise und deutete Jonathan, sich mit ihm gemeinsam ein wenig von den Feiernden zurückzuziehen. „Er hat gesagt, dass sich die Dinge ändern werden. Dass du ein wichtiger Mann für die Zukunft unseres Volkes bist und auch in der Familie eine andere Rolle spielen wirst."

„Das ist lächerlich!", widersprach ihm Jonathan verärgert. „Ich wüsste nicht, warum meine Meinung in diesem Haus auf einmal etwas zählen sollte." Er lehnte sich ein wenig an die Steinmauer, die das Anwesen eingrenzte. Micha stand neben ihm.

„Darf ich dich etwas fragen, Jonathan?", bat er leise, wartete die Antwort des Freundes aber nicht ab. „Haben wir deinen Segen?"

„Ja", antwortete Jonathan schnell und legte Micha dann beide Hände auf die Schultern, wie um seine Antwort zu bekräftigen. So verharrten sie eine Weile. Unweit von ihnen feierten die Jerusalemer Priesterfamilien, der Abend war warm und klar, die Luft voll vertrauter Gerüche. Wie in der Sukkot-Nacht, schoss es Jonathan durch den Kopf und er ermahnte sich zugleich, keine Sentimentalität zuzulassen.

„Micha", setzte er, nun seinerseits unsicher, an. „Wie geht es deiner Schwester? Wie geht es Tabitha?"

„Es geht ihr gut", entgegnete Micha, unterbrach sich aber sofort. „Jonathan", fuhr er entsetzt fort. „Du weinst ja!" Er wartete kurz, nahm den anderen in den Arm. „Einfach nur, wenn du ihren Namen in den Mund nimmst?" Jonathan befreite sich ein wenig aus den Armen des anderen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

„Nicht jedes Mal", versuchte er zu scherzen, und sie mussten beiden lachen. Dann wurden sie schnell wieder ernst. Denn ein paar Meter von ihnen entfernt hatte sich Schlomo aus der Menge gelöst und kam auf sie zu.

„Micha", sagte er höflich, aber auf eine Art und Weise, die keinen Widerspruch duldete, „gestattest du, dass mein Sohn und ich uns einen Moment zurückziehen?"

„Selbstverständlich, Kohen", erwiderte der schnell und verbeugte sich leicht. Wie ein guter Schwiegersohn, dachte Jonathan und erinnerte sich daran, wie er selbst sich all die Jahre bemüht hatte, einen positiven Eindruck auf Seraja zu machen.

Schlomo schenkte Micha allerdings kaum Beachtung. Er nickte ihm kurz zu, legte dann seinen rechten Arm auf die Schultern seines Sohnes und schob ihn vor sich her, sodass der Abstand zwischen ihnen und der Festgesellschaft immer größer wurde. Eine Weile gingen sie und die Geräusche wurden leiser. Dafür meinte Jonathan, nun draußen in der Nacht ein paar Kojoten heulen zu hören.

„Es waren Männer da", begann Schlomo endlich, „die deine Ankunft angekündigt haben. Jerusalem hat sich verändert. Wir leben in Angst vor den Römern. Sie sind unberechenbar geworden. Man kann sich auf den eigenen Bruder nicht mehr verlassen noch auf den Knecht, der von deiner Hand lebt."

Er machte eine Pause und sah Jonathan erwartungsvoll an. Der hielt dem Blick zwar stand, zeigte sonst aber keine Reaktion. Er will mit mir sprechen, sagte sich Jonathan und atmete tief durch. Denn er wusste nicht, ob er dem gewachsen war. Es war es gewohnt, dem Vater seine Vergehen zu beichten, um Strafe zu bitten oder um Gnade zu flehen, aber ganz sicher nicht, in seiner Gegenwart auszusprechen, was er dachte. Außerdem wusste er nicht, ob er Schlomo vertrauen konnte. Gewiss, er hatte ihm vor Jahren das Leben gerettet, das aber vermutlich in erster Linie, um sich selbst die Schande der Hinrichtung seines ältesten Sohnes zu ersparen. Auch war er ein enger Verbündeter Hyrkans, Jonathan dagegen hatte Alexander die Treue geschworen.

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