Rituale der Reinigung

29 11 1
                                    

„Seraja hat seine Kinder auch zu guten und rechtschaffenen Menschen erzogen und er hat dafür keine Gewalt gebraucht," widersprach er und fügte dann etwas zu leidenschaftlich hinzu. „Du schätzt Tabitha, das weiß ich. Vorhin meintest du sogar, sie habe Eleazar zu einem besseren Menschen gemacht." Er unterbrach sich, denn er spürte in dem Moment, dass es ihm unmöglich gelingen konnte, dem Vater Paroli zu bieten und zugleich den Gedanken an Tabitha in seinem Herzen zuzulassen.

„Sie ist eine Frau", stellte Schlomo sachlich fest. „Es ist viel schwerer, einen Sohn zu erziehen. Das wirst du selbst eines Tages begreifen." Jonathan lachte laut und böse auf. Er kam etwas näher an den Vater heran, sah ihm wütend in die Augen.

„Ich werde keine Kinder haben", fuhr er ihn an. Dann wartete er. Er wusste nicht, in welche Richtung sich ihre Unterhaltung noch entwickeln konnte. Er wollte endlich allein sein, vielleicht um die Freude wiederzufinden, die er eigentlich von dem Moment an empfunden hatte, als seine Füße den Boden der heiligen Stadt berührt hatten. Und doch gelang es ihm nicht, sich vom Vater zu lösen.

„Warum nicht", fragte der gerade, nun seinerseits boshaft, „wo du doch so sicher bist, dass du ein besserer Vater sein würdest." Jonathan schwieg. In einem Augenblick wollte er weinen, im anderen dem Vater ins Gesicht schlagen. Natürlich tat er keines von beidem.

„Ich bin mir nicht so sicher", sagte er schließlich leise. „Jeden Tag entdecke ich Züge an mir, die mich an dich erinnern. Die sture Treue gegenüber dem Gesetz, der Zwang, dass alles seine richtige Ordnung haben muss. In den Momenten ekelt es mich vor mir selbst. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum ich zu Gott bete, dass es mir gelingt, dich nicht zu hassen."

Schlomo war mehrmals zusammengezuckt, während Jonathans Worte sich in einem Schwall über ihn ergossen hatten. Habe ich dich verletzt, Vater, wollte Jonathan noch hinzufügen, blieb aber still. Wieder verging Zeit. Die Stimmen der Kinder waren inzwischen verstummt. Es war spät am Abend und sie hatten längst, die einen willig, die anderen unter Tränen, die Festgesellschaft verlassen müssen. Dafür hörte man die Parolen der Männer nun klarer und lauter. Immer wieder war es Jonathan, als sprächen sie gerade von Hyrkan oder von Aristobolus und Alexander. Selbst den Namen Eleazar meinte er manchmal im Gewirr der Stimmen erkennen zu können.

„Man verpasst viele schöne Momente, wenn man keine Kinder hat", versuchte Schlomo das Gespräch nach einer Weile wieder aufzugreifen. Er gab sich Mühe, der Unterhaltung noch eine versöhnliche Wende zu geben. Doch Jonathan schüttelte nur böse den Kopf.

„Ist das so, Vater?", herrschte er ihn an. „Hast du je einen schönen Moment mit mir erlebt? Hast du je etwas Gutes in mir gesehen? Und nicht immer nur das Mangelhafte, Ungenügende?" Er atmete tief durch. Du musst dich beherrschen, ermahnte er sich. „Auch ich will dir etwas sagen", setzte er ruhiger fort. „Ich habe mit den Begierden und Freuden des Lebens abgeschlossen. Da ist nur noch ein einziges Verlangen in meiner Brust: Dem Herrn, unserem Gott, ein leeres Gefäß zu sein, in das er seinen Willen legen möge." Er wartete kurz. „Und nun lass uns zurück zu den Gästen gehen und der Jerusalemer Gesellschaft zeigen, was für eine glückliche Familie wir sind."

Er griff grob nach dem rechten Arm des Vaters, zwang ihn, sich bei ihm einzuhängen und wie ein Bild der vollkommenen Eintracht in Richtung der Feiernden zu gehen. Er spürte seinen Arm, verschränkt in dem seinen, und er wusste, dass dem Vater ihre Nähe mehr wehtat als alles, was er noch hätte sagen können.

Der Tag darauf war ein Freitag und Jonathan erwartete den Moment, wo er den Priesterhof betreten würde, mit Unbehagen. Er hatte sich zwei Jahre lang kaum an die strengen priesterlichen Rituale gehalten, häufig sogar die Schabbat-Vorschriften missachtet. Und obwohl er sich stets bemüht hatte, zumindest die Speisegebote zu befolgen, musste er davon ausgehen, dass er bisweilen auch unreines Essen zu sich genommen hatte. Er wusste, dass Männer wie der Maskil davon überzeugt waren, dass es letztlich die Liebe Gottes war, die Erlösung bringen würde, und nicht der Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Und doch stand ihm die Lehre seines Vaters um so viel näher und er war sich daher alles andere als sicher, dass Gott ihm seine Übertretungen jemals verzeihen würde. Ganz besonders quälte ihn die Vorstellung, als Sünder vor den Altar Gottes zu treten. Zugleich aber scheute er sich vor dem Gang zur großen Mikwe, obwohl er sich im Grunde kaum etwas sehnlicher wünschte als sich zu reinigen und Buße zu tun.

Als Daniel ihm am frühen Nachmittag anbot, ihn zur Mikwe zu begleiten, war Jonathan zunächst überrascht, denn er hatte den Bruder noch als kleinen Jungen in Erinnerung und musste sich erst bewusst machen, dass er natürlich längst gemeinsam mit dem Vater am Tempel diente. Zugleich war er erleichtert, denn das Gefühl, einen Menschen an seiner Seite zu haben, auf dessen uneingeschränkte Liebe er vertrauen durfte, tat ihm gut.

„Es ist nicht zu fassen, wie groß du geworden bist", scherzte Jonathan, während er gemeinsam mit Daniel das Haus verließ. Draußen im Hof verabschiedeten sich die Brüder von der Mutter, die gerade vom Markt zurückgekehrt war und mit einer Bekannten plauderte. Jonathan beantwortete noch rasch ein paar Fragen, denn die alte Rivka wollte sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen, von dem heimgekehrten Sohn des Kohen höchstpersönlich zu erfahren, wie es ihm im fernen Rom ergangen war. Dann grüßten sie die Mutter ein zweites Mal und wandten sich zum Gehen, als plötzlich Schlomo vor ihnen stand.

„Erlaubst du, dass ich mit euch komme", fragte er vorsichtig, wie einer, der damit rechnet abgewiesen zu werden.

„Es wäre mir eine Freude", log Jonathan, denn er wollte dem Jerusalemer Tratsch keinen Anhaltspunkt für eine Verstimmung zwischen Vater und Sohn geben. Nach außen sind wir eine glückliche Familie, wiederholte er für sich, wie er es dem Vater tags zuvor gesagt hatte. Außerdem kann es nicht schaden, dachte er, wenn er für mich betet. Immerhin hat er die Gesetzes Gottes sein Leben lang gewissenhaft erfüllt.

Nachdem Jonathan sich ausführlich dem Reinigungsritual unterzogen hatte, fühlte er sich ein wenig besser. Er ließ es sogar zu, dass Schlomo ihm die Hand auf den Kopf legte und den Aaron-Segen sprach. Immerhin waren sie auch hier in der Öffentlichkeit. Zugleich aber mochte es auch einen kleinen Anteil in seinem Herzen geben, der sich dem Gebet des Vaters bereitwillig hingab, einen Rest von jenem kleinen Jungen, der sich damals wie heute danach sehnte, geliebt zu werden.

Wenig später schritten die Brüder hinter Schlomo die Prozessionsstraße entlang, den Tempelberg hinauf. Lange bevor Jonathan die Mauer erkennen konnte, die das Gelände einfriedete, auf dem die Händler und Geldwechsler ihre Geschäfte betrieben, konnte er den Geruch des Tempels wahrnehmen. Es war eine eigenartige Mischung aus süßem Weihrauch, verbranntem Fleisch, stickigem Rauch und Tierexkrementen, genau genommen ein beißender Gestank, der für Jonathan aber dennoch stets der Inbegriff von Familie, Geborgenheit und Frieden gewesen war. Gegenüber Silas und Tabitha hatte er einmal vom Geruch Gottes gesprochen und sich gleich darauf korrigiert, denn natürlich war es eine Sünde, Gott so zu denken, als sei er mit menschlichen Sinnen wahrnehmbar. Als er nun in der Dämmerung des Schabbat-Abends die Stufen zum Tempel hinauf stieg, und dieser Geruch Gottes ihn erfüllte, konnte er seine Gefühle nur mit Mühe kontrollieren. Verzeih mir Herr, betete er im Gehen. Denn ich habe getötet und deine Gebote missachtet.

Schlomo überquerte den Tempelhof der Heiden und Proselyten und seine Söhne folgten ihm in einem angemessenen Abstand. Ständig trafen neue Menschen ein, sie sprachen rituelle Gebete, rezitierten Psalmen, manche zogen ein Schaf oder eine Ziege hinter sich her oder warteten im Vorhof des Altars, bis ihnen ein levitischer Helfer das Tier abnehmen und dem gerade amtierenden Priester zur Schlachtung übergeben würde. Kurz vor dem Eingang des Priesterhofes wurde das Gedränge größer und Jonathan verlor sowohl seinen Vater als auch seinen Bruder aus den Augen. Doch das kümmerte ihn nicht, denn er war noch immer ins Gebet vertieft. Herr, mein Gott, sprach er in seinen Gedanken, nimm mein Gelübde an. Ich werde sie nicht wiedersehen, bevor du mir nicht ein Zeichen deiner Vergebung sendest.

„Lo merecheka ani!", hörte er da plötzlich jemanden flüstern und fühlte sich sofort nach Rom zurückversetzt, als er vor dem Forum Boarium zum ersten Mal mit den Männern des Alexanders zusammengekommen war. „Schade, dass es am Tempel keine Rinderherden gibt, die dir bei der Flucht helfen", spottete der Fremde, während er Jonathans Arm mit einem entschlossenen Griff festhielt, sodass dieser sich nicht von ihm befreien konnte, ohne einen Tumult auszulösen. „Wir haben unseren Teil der Abmachung erledigt," raunte ihm der Mann zu. „Ab Morgen wirst du ein wichtiger Mann am Tempel sein. Man wird dich nach Kallirohe entsenden, wo über das Schicksal von Machärus und Aristobolus verhandelt wird. Ich weiß, du wirst Alexander nicht enttäuschen." Dann ließ er ihn los und verschwand in der Menge, sodass Jonathan nicht einmal mehr die Gelegenheit hatte nachzufragen, was sich in Kallirohe ereignen sollte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt