Ein Kinderlied

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Am nächsten Morgen folgten sie der Straße zunächst in einer langgezogenen Kurve nach Süden, ließen das schroff abfallende Ufer des Asphaltsees hinter sich und erreichten schließlich ein enges, leicht ansteigendes Tal. Die Wägen mussten nun langsamer fahren und die Gruppe zog sich wegen der Steigung mehr und mehr in die Länge. Kaleb schien das zu missfallen, denn er bewegte sich als einziger rastlos vom Anfang der Karawane bis zu ihrem Ende und trieb die Sklaven bald mit schroffen Worten, bald mit Schlägen und Fußtritten zur Eile an. Die Sonne stand noch nicht besonders hoch am Himmel und so war die Straße in jenen gespenstischen Schatten gehüllt, den die schroffen Felsen auf den sandigen Boden warfen. Es war kühl, weshalb Tabitha schließlich doch Mirjams Drängen nachgab und gemeinsam mit Jael im Inneren des Wagens Platz nahm, wo sie zumindest vor dem immer stärker werdenden Wind geschützt waren.

Während die Kleine schlief, lehnte Tabitha am Rahmen der Holztür und sah aus dem Fenster. Alles war ruhig. Nur Kaleb hörte man bald von vorne, bald von hinten seine Befehle erteilen. Da flog plötzlich ein Stein dicht am Wagen vorbei. Er traf den Soldaten, der ein paar Schritte neben dem Fuhrwerk marschierte, mit voller Wucht am Hinterkopf. Sein lederner Helm schien die Gewalt des Aufpralls nur ungenügend abgefedert zu haben, denn der Mann sackte regungslos in sich zusammen.

Kaleb, der sich gerade bei der Vorhut befand, reagierte schnell, drehte sich um, zog sein Schwert und wich zugleich geschickt dem nächsten Stein aus. Die übrigen Soldaten dagegen schienen einen kleinen Moment zu zögern, was den Schützen einen Vorteil verschaffte. Sie trafen drei weitere von ihnen mit ihren Schleudern, zwei taumelten aber dennoch weiter und richteten ihre Waffen mechanisch gegen einen noch unsichtbaren Feind. Dan dagegen hatte Jaron den Strick seines Maultiers aus der Hand gerissen und rannte gemeinsam mit dem Tier einen Hügel hinauf. Als kurz darauf die Rebellen ausgerechnet von dieser Richtung ihren Angriff eröffneten, hetzte er den Abhang wieder hinunter, ließ das Maultier im Laufen los und verkroch sich schließlich unter dem Wagen, in dem Tabitha, Martha und Mirjam dicht gedrängt beisammen kauerten und starr vor Entsetzen das Geschehen beobachteten.

Nach und nach begannen die Gefechte zwischen den Soldaten und den vermummten Angreifern, man hörte Kampfgeschrei, aber auch das Stöhnen der Verwundeten, Jael war aufgewacht und weinte. Tabitha drückte sie sofort an ihre Brust, entschied sich dann aber anders. Sie legte die Kleine Mirjam in den Arm und deutete den Mägden, sich am Boden des Wagens hinzuhocken. Sie selbst wollte weiterhin in der Nähe der Tür bleiben, um sich zumindest einen ungefähren Eindruck davon zu machen, wie sich der Kampf entwickelte.

Wenn ich eine Sica hätte, wäre das eine gute Position einen Angreifer abzuwehren, ging es ihr durch den Kopf, doch erstens fiel Tabitha beim besten Willen kein Gegenstand ein, den man hätte als Waffe umfunktionieren können, und zweitens war ihr natürlich bewusst, dass sie zu schwach war, um im Zweikampf bestehen zu können. Zuhause in Jerusalem hatte sie die Brüder manchmal überreden können, sie bei ihren Fechtübungen mitmachen zu lassen. Doch obwohl Tabitha die Technik allein schon vom vielen Zusehen gut beherrschte und sich als schnell und wendig erwies, musste sie sich selbst doch eingestehen, dass sie einfach nicht genügend Kraft besaß, einen schweren Hieb zu parieren oder dem Feind das Schwert gezielt in den Leib zu rammen.

Für einen kurzen Moment wagte sie sich näher an das Fenster heran und erkannte, dass der Wagen mittlerweile unbeweglich auf seiner Achse ruhte. Jemand dürfte die Zugleinen der Rinder durchtrennt haben, denn von den Tieren war weit und breit nichts zu sehen. Das muss der Ruck gewesen sein, den wir zuvor gespürt haben, sagte sich Tabitha und lehnte sich wieder zurück. Denn inzwischen versperrte ihr Kyron die Sicht. Er hatte sich vor dem Eingang des Wagens in Stellung gebracht und hielt einen Schild, den er vermutlich einem der gefallenen Soldaten abgenommen hatte, schützend vor seinen Oberkörper.

„Wir dürfen uns nicht wehren, nur nicht wehren", wimmerte Martha am Boden des Wagens.

Was für ein Unsinn, dachte Tabitha, als ob das die Männer jemals gestört hätte, wenn sie eine Frau vergewaltigen wollen. So oder so werden sie uns entweder töten oder in die Sklaverei verkaufen. Sie warf Martha einen strengen Blick zu, denn die hatte noch immer nicht aufgehört, lautstark vor sich hinzujammern. Doch Martha beachtete Tabitha nicht, und nachdem Jael aus Leibeskräften schrie, musste sich Tabitha eingestehen, dass es schlussendlich nicht an Martha liegen würde, wenn die Angreifer sie bald finden und aus dem Wagen zerren würden. Warum habe ich Eleazar nur eingeredet, dass uns nichts passieren wird, schalt sie sich innerlich. Wie sinnlos ist dieser Tod! Wir hätten alle zuhause in Jericho bleiben können. Wenn Jael stirbt, dann ist es allein meine Schuld.

Tabitha richtete ihren Blick starr aus dem Fenster, denn sie konnte es nicht ertragen, ihr Kind auch nur anzusehen. Eleazar wird ein Blutbad anrichten, sagte sie sich, wenn er vom Tod seiner Tochter erfährt. Er wird jeden niedermetzeln, der ihm nur irgendwie über den Weg läuft, als erstes den Boten. Kyron verharrte immer noch angespannt vor der Tür. Er hatte keine Waffe, nur den runden Schild, den er mit beiden Händen festhielt. Allmählich ließ das Lärmen nach. Gerade sank der letzte Soldat in die Knie. Einer der beiden Männer, die ihn bezwungen hatten, war wie ein gewöhnlicher Bauer gekleidet, der andere trug eine lange braune Tunika, einen Turban und um seinen Hals ein blaues Tuch, das Erkennungszeichen der Rebellen. Gerade zog er den Gladius aus dem Leib des Soldaten. Eine Waffe, wie sie sonst nur die Römer haben, schoss es Tabitha durch den Kopf. Vermutlich hat er in einer der großen Schlachten gekämpft.

Kyron war noch näher an den Wagen herangerückt, und Tabitha sah, dass er zitterte. Der Fremde kam auf ihn zu, weiter hinten entdeckte sie zwei andere Rebellen, die ebenfalls bewaffnet zu sein schienen und dem anderen wohl den Rücken freihalten wollten.

„Auf die Knie", brüllte der Mann Kyron an, „und leg den Schild weg. Ich will deine Hände sehen!"

Kyron zeigte keine Reaktion. Seine Hände umklammerten krampfhaft den Schild.

„Na los, Kleiner, ich werde deiner Herrin nichts antun", rief der Rebell, während er sich langsam, aber unaufhaltsam dem Wagen näherte. Da sein Gesicht verhüllt war, konnte sie schwer einschätzen, ob seine Worte ehrlich gemeint waren, doch die Ruhe in seiner Stimme gab ihr ein wenig Hoffnung.

„Mach schon, du Narr", schimpfte der Mann jetzt, zunehmend ungeduldig. „Du tust niemandem einen Gefallen, wenn du den Helden spielst."

„Kyron!", zischte Tabitha, gerade laut genug, dass er sie hören konnte. „Du musst dich ergeben!"

Aber ihre Worte kamen zu spät, denn gerade machte Kyron einen entschlossenen Schritt auf den Fremden zu, hob den Schild mit beiden Händen über seinen Kopf, als wollte er ihn wie eine Waffe benutzen und auf den Schädel des Rebellen niedersausen lassen. Der jedoch zeigte sich völlig unbeeindruckt. Er wich geschickt nach links aus, sodass Kyron sein Ziel verfehlte und das Gleichgewicht verlor. Als er sich wieder aufrichten wollte, stand der Fremde bereits über ihm. Er trat mit dem rechten Fuß gegen sein Gesicht und Kyron war sofort bewusstlos. Die Spitze des mit Blut überzogenen Gladius streifte scheinbar gleichgültig über Kyrons Brust, als sich der Krieger von ihm abwendete.

Es wäre ihm ein Leichtes gewesen ihn zu töten, dachte Tabitha, und er hat es doch nicht getan. Draußen war es jetzt still, beinahe friedlich. Martha und Mirjam dagegen schluchzten herzzerreißend und Jael schrie noch immer. Jetzt endlich beschloss Tabitha, Mirjam das Kind abzunehmen. Die drückte die Kleine fest an sich und zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr sogar, ein Kinderlied zu summen, leise, wie eine bloße Andeutung. Dabei bewegte sie das Kind in ihren Armen rhythmisch auf und ab. Es waren nur kleine Bewegungen und doch ließ sich Jael allmählich beruhigen. Tabitha war nun so weit als möglich vom Fenster weg in die Mitte des Wagens gerückt und versuchte zugleich, Martha nicht wehzutun, die zu ihren Füßen am Boden kauerte und sich an ihren Unterschenkeln festklammerte. In dem Moment packte der Fremde mit sicherem Griff die karmesinroten Leinenvorhänge und riss sie mit einem einzigen Ruck aus ihrer Verankerung.

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