6. Familientreffen

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"Ich glaube nicht, dass sie kommen wird." Steve's Stimme wurde durch die Tür zum Treppenhaus gedämpft, aber ich konnte ihn trotzdem klar und deutlich hören.

"Natürlich kommt sie!" Tony hörte sich so selbstsicher wie immer an, wenn auch ein wenig ungläubig über Steve's Worte. "Warum sollte sie nicht kommen? Wir haben uns seit Jahren nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen und Clint ist ihr wichtig, sie..."

"Sie hat den Kontakt zu dir abgebrochen, Tony! Seit einem halben Jahr nichts als Funkstille! Du hast sie nicht gesehen. Sie war... Tony, das ist nicht mehr die Kayla, die du kennst. Sie ist... sie hat sich verändert. Und nicht zum Besseren." Steve hörte sich entsetzt an. Traurig. Vollkommen überzeugt von seinen Worten. Und er hatte auch Recht. Jedenfalls in fast allem. Ich würde nie jemanden aus meiner Familie im Stich lassen. Trotzdem blieb ich neben der Türe sitzen, den Kopf eingezogen und den Atem angehalten.

Ich hatte nicht vorgehabt, zu lauschen, natürlich nicht, aber es war einfach so passiert. Ich war zu spät gekommen, weil Peter meine Hilfe gebraucht hatte und ich eingesprungen war, wenn auch nur als seine Augen und Ohren und nicht als Heldin. Wir waren beide noch nicht bereit dafür, wieder zusammen zu kämpfen und es war mir sowieso zu gefährlich. Vor allem, weil ich mich tatsächlich gewagt hatte, mit Gwen auszugehen.

Ich hatte nicht lauschen wollen. Es war einfach so passiert. Ich war durch eine Sicherheitslücke ins System des Bürogebäudes gekommen, dass immer noch auf den Stark Industries Systemen aufbaute und hatte eine elektrisch gesicherte Türe im Erdgeschoss aufbekommen. Ich war so sicher gewesen, dass ich schon lange über alles hinweg gewesen war, aber die lange Treppe zu Tonys altem Penthouse hatte gereicht, um Erinnerungen hochzuholen, Erinnerungen an bessere Zeiten, in denen ich noch hier gelebt hatte, mit einer Familie, die seit Jahren nicht mehr existierte. Es tat weh, zu sehen, dass mein altes Stockwerk zu einer riesigen Abstellkammer geworden war. Es tat weh, Bürotische in Nat's Stockwerk, Reihen um Reihen von Regalen voller Akten in Steve's zu sehen.

Zu dem Zeitpunkt, an dem ich bei Tonys altem Penthouse angekommen war, war ich komplett ausser Atem gewesen, zu meiner eigenen Überraschung noch nicht in der Mitte eines Hustenanfalls. Wie durch ein Wunder noch kein komplettes Wrack, das nichts tun konnte, als nach Luft zu ringen und zu hoffen, dass es bald vorbei sein würde.

Ich hatte nicht lauschen wollen. Es war einfach so passiert. Tonys Stimme hatte ausgereicht, um mich vollkommen aus der Bahn zu werfen. Ich hatte den Türknauf schon in der Hand gehabt, war schon im Begriff gewesen, hereinzugehen, aber dann hatte ich ihn gehört und war zusammengebrochen. Ich wusste nicht einmal, was er gesagt hatte, seine Stimme war genug gewesen, mich zu einem zitternden Haufen Elend zu machen, der sich auf der Treppe zusammenkauerte, nur Millimeter von einer Panikattacke entfernt.

Es war nicht seine Schuld. Natürlich nicht. Wie könnte es jemals Tonys Schuld sein? Dass Tony hier war, hiess, dass ich mit ihm reden müsste. Dass er mich zu sehen bekommen würde, so, wie ich jetzt war, vollkommen fertig und total am Ende und ihn würde ich nicht mit einem schiefen Lächeln abspeisen können. Er kannte mich viel zu gut. Er kannte diese Taktik viel zu gut, um darauf reinzufallen und das wusste ich. Vielleicht war es genau deswegen so beängstigend, ihn wiederzusehen. Vielleicht war es auch, weil ich ihm nie alles gesagt hatte. Weil da immer noch Dinge waren, die er nicht wusste, schreckliche Dinge, die ich getan hatte, Dinge, über die selbst ich nicht nachdenken wollte. Dinge, die ich damals, nach Civil War versprochen hatte, mit ihm zu teilen, egal, ob sie meine schlimmsten Geheimnisse waren oder meine brutalsten Fehler. Dinge, die vor einem halben Jahr geschehen waren. Dinge, die ihn dazu bringen würden, mich als das Monster zu sehen, für das die Welt mich schon viel zu lange hielt. Für das sogar Steve mich hielt.

Das Monster, zu dem ich mich selbst gemacht hatte.

Meine Finger zitterten so stark wie schon lange nicht mehr und ich verfluchte mich dafür, so verdammt schwach zu sein, so verdammt labil, dass sogar die Stimme meines eigenen Vaters mich an den Rand eines Zusammenbruchs brachte. Tony war früher einmal mein Fels in der Brandung gewesen, unbeweglich, unausweichlich und immer für mich da, immer da, um mich vor der Flut zu beschützen. Aber der Ozean liess sich nicht betrügen und irgendwann vor drei Jahren waren die Wellen zu hoch gewachsen, über Tony's Kopf hinweg, und hatten mich aus meinem Versteck gezerrt, ins Licht und in die unendliche Weite der See, wo ich mich verloren hatte und kaum noch über Wasser halten konnte.

Stark Chronicles: Final RoundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt