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Es war grauenhaft mitanzusehen, welche Ängste Emily durchlitt, während Julia sie von den Gurten befreite. Es erinnerte sie ein wenig an ihre erste Begegnung im Wald. An den Moment, in dem Julia das kleine panische Mädchen das erste Mal von ihren Fesseln befreit hatte. Emily hatte Todesängste durchlitten und trotz ihrer schweren Verletzungen versucht, vor Julia zu fliehen. Auch jetzt verfolgte die Kleine jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen. Das zu sehen, schmerzte Julia tief in ihrer Seele.

All das Vertrauen, das sie sich in geduldiger Kleinstarbeit über Tage hinweg erarbeitet hatten, war wie weggeblasen. Alexander Rohde hatte in nur einer Nacht alles zerstört, was Julia und Emilys Familie Tage an Geduld und Feinfühligkeit gekostet hatte.

Alexander Rohde. Der Mann, der Emily elf Jahre lang gefangen gehalten, misshandelt, manipuliert und missbraucht hatte. Der ihr die gesamte Kindheit geraubt und sie zu einem Menschen erzogen hatte, der einzig und alleine darauf trainiert war, zu gehorchen, Regeln zu befolgen und Wünsche zu erfüllen. Ein Mensch ohne eigenen Willen und mit Misstrauen gegenüber der ganzen Welt.

Nachdem sich die Mitarbeiterin einer Bäckerei gleich zu Beginn ihrer Schicht morgens um vier gemeldet hatte, war alles ziemlich schnell gegangen. Die junge Frau hatte Rohde auf den Fotos erkannt. Er kam regelmäßig zur Bäckerei. Sofort waren alle erreichbaren Kolleginnen und Kollegen des Supermarktes, zu dem die Bäckerei gehörte, aus ihren Betten telefoniert worden. Eine Mitarbeiterin der Metzgertheke hatte schließlich den entscheidenden Hinweis gegeben: Der Mann bestellte manchmal Fleisch.

Und damit hatten sie dem Monster endlich einen Namen geben können.

Alexander Rohde.

Anschließend hatte es nicht mehr lange gedauert, auch seine Adresse zu ermitteln. Julia war zu der Zeit bereits auf dem Weg in die Kleinstadt gewesen. Kaum hatten sie den Hinweis der Bäckerei-Mitarbeiterin erhalten, war sie mit einem Team der Polizei in einen Einsatzwagen gestiegen, um vor Ort zu sein, sobald es Neuigkeiten gab. Die Fahrt hatte eine knappe Stunde gedauert – ungefähr so lange, wie es auch gebraucht hatte, um den Namen und die Adresse herauszufinden.

Alexander Rohde hatte nicht die blasseste Vorahnung gehabt. Sie hatten ihn in seinem Bett überrascht. Genüsslich schlafend, während er zwei Kinder in einem dunklen Zimmer eingesperrt hielt, das eine in einem kleinen Käfig, das andere an ein Bett gefesselt. Und er ging schlafen!

Umso größer war die Genugtuung gewesen, ihm dabei zuzusehen, wie er nur in Boxershorts bekleidet von Männern der Spezialeinheit überwältigt und mit Handschellen gefesselt worden war. Jemand hatte ihm anschließend eine Hose angeboten und ihm geholfen, hineinzuschlüpfen, doch der Schock und die Erniedrigung waren ihm deutlich anzusehen gewesen.

Sie hatten ihn überrumpelt, denn er hatte sich vollkommen sicher gefühlt.

Aber er hatte einen Fehler gemacht. Nur einen einzigen kleinen Fehler, doch dieser war von großer Tragweite gewesen und hatte die Polizei schließlich direkt zu ihm geführt.

Rohde hatte Jens Wagner nicht aus seiner Mailingliste gelöscht, über die er seine Kunden über Neuigkeiten informierte – so auch über den Beginn des neuen Livestreams. Hätte Alexander Rohde Jens Wagner aus der Liste gelöscht, hätte die Polizei niemals von dem Livestream erfahren. Sie hätten Rohdes Gesicht nicht gekannt und keinen einzigen Hinweis darauf gehabt, wer er war oder wo er Emily hingebracht hatte. Stattdessen hatten sie alles über einen Livestream verfolgen und sein Bild an Supermärkte, Apotheken, Hotels und Tankstellen überall in der Region verschicken können.

Es war in Anbetracht all der Dinge, die Rohde getan hatte, ein wirklich sehr kleiner Fehler gewesen, doch er hatte glücklicherweise zur Rettung der beiden Mädchen geführt.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt