4. School is killing artists

250 17 1
                                    

„Du schreibst mir aber bitte direkt, wenn du angekommen bist oder wenn irgendwas passiert ist.", bittet mich Max. „Ja, du musst dir keine Sorgen machen, es ist alles gut.", entgegne ich. „Liebelein, es passiert so viel und du denkst ernsthaft, dass ich mir nicht genau so Sorgen um dich mache, wie es Papa macht?", fragt er. „Oh man, Max. Ich bin neunzehn, du brauchst mich also nicht so zu behandeln, als wäre ich noch ein Kleinkind.", erwidere ich leicht genervt. „Ich bin in ein paar Tagen wieder da, aber momentan brauche ich einfach Abstand. Bald geht sowieso die Ausbildung los und da habe ich bestimmt keine Zeit mehr, um Milla und Levi mal eben so zu besuchen.", ergänze ich. „Na gut, aber melde dich bitte trotzdem, wenn du in Leipzig angekommen bist. Dir vertraue ich ja und ich glaube eigentlich auch, dass du ganz gut auf dich selbst aufpassen kannst, aber ich vertraue den anderen nicht.", entgegnet mein Bruder. Ich weiß natürlich, dass er sich nur Sorgen macht, aber ich bin wirklich kein kleines Kind mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Max nicht so wirklich wahrhaben will, dass ich erwachsen bin. Für ihn bin ich wohl immer noch die kleine und hilflose Schwester, um die er sich gekümmert hat, die er beschützt hat. Ich liebe meinen Bruder wirklich über alles, aber das nervt ziemlich. „Charlie, ich weiß ja, dass du erwachsen bist und dass du alles alleine schaffen willst, aber wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du dich bei mir melden. Ich vermisse dich und auch wenn man es vielleicht nicht immer merkt, ich habe dich lieb und ich mache mir Sorgen um dich.", erklärt meine Schwester Tinka. Es ist ja wirklich ganz süß, dass sie mir das sagt, manchmal merkt man wirklich nicht, dass sie mich lieb hat, aber man merkt auch nicht immer, dass ich sie lieb habe. Auch wenn ich mich ziemlich darüber freue, dass sie ausnahmsweise mal nett zu mir ist, geht sie mir auch ziemlich auf die Nerven. Ich habe nicht nur einen Vater und eine potentielle neue Stiefmutter, die ziemlich besorgt sind, sondern auch noch große Geschwister, die mich wie ein Kind behandeln. In einer solchen Situation wäre ich schon froh, ein Einzelkind zu sein. Wobei es auch ziemlich viele Situationen gibt, in denen ich sehr dankbar dafür war, Geschwister zu haben. Ehrlich gesagt kann ich es mir ohne die beiden Chaoten kaum vorstellen.

Als ich am Hauptbahnhof ankomme, bin ich zuerst ein bisschen überfordert, es ist alles so riesig und ich komme mir plötzlich so klein vor. „Charlie, hier bin ich!", ruft meine beste Freundin und winkt hektisch. Fast hätte ich sie nicht erkannt, sie hat sich schon wieder die Haare gefärbt. Milla war vermutlich in ihrem früheren Leben ein Chamäleon, so oft, wie sie die Haarfarbe oder ihren Kleidungsstil wechselt. Zur Zeit sind ihre Haare grün und lila. Ich muss zugeben, dass ihr das echt gut steht. Voller Vorfreude renne ich auf meine beste Freundin zu und umarme sie. Wir haben uns schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr gesehen, wir konnten immer nur telefonieren. „Du glaubst nicht, wie sehr ich dich vermisst habe, du treulose Tomate.", begrüße ich sie und grinse sie an. „Döner ohne Salat, Tomaten und Zwiebeln oder bist du inzwischen erwachsen geworden?", fragt meine beste Freundin und grinst mich an. „Döner ohne Salat, Tomaten und Zwiebeln. Offensichtlich bin ich noch nicht erwachsen geworden.", entgegne ich und Milla lacht. Und wie läuft's so in der Stadt der Nazis?", frage ich. Natürlich kann man nicht alle Leute direkt verurteilen, aber was meine beste Freundin erzählt hat, war schon ziemlich krass. „Ach, an manchen Tagen möchte ich den Nazis direkt aufs Maul hauen, weil sie Menschen beleidigen, die nicht in Deutschland geboren sind, an manchen Tagen bin ich das Opfer, weil mir anscheinend auf die Stirn geschrieben steht, dass ich queer bin und manchmal halten sich die Leute auch einfach zurück.", antwortet sie. Milla hatte schon mehrere Anzeigen, weil sie andere Leute verteidigt hat, in dem sie Nazis geboxt hat. Manchmal glaube ich, dass sie sich so sehr für andere einsetzt, weil sich früher nie jemand für sie eingesetzt hat.

Milla ist das jüngste von sieben Geschwistern und jedes Kind hat einen anderen Vater. Ihre Mutter hat sie nie richtig geliebt, denn eigentlich waren alle Kinder mehr oder weniger ein Unfall. Ihre älteste Schwester hat sich vor vier Jahren das Leben genommen, ihre zweitälteste Schwester, kam damit nicht klar und rutschte in die Drogenszene ab. Die ständig wechselnden Partner ihrer Mutter haben die Kinder geschlagen, irgendwann hat Milla es nicht mehr ausgehalten. Eine ganze Weile hat sie auf der Straße gelebt, bis sie in eine Einrichtung gezogen ist, die ihr geholfen hat. Wir haben uns in der Schule kennen gelernt, sie stand ganz alleine in der Ecke und hat geraucht. Wir haben uns direkt verstanden und den ein oder anderen Rauchertadel habe ich in der Zeit auch auf mich genommen, damit sie nicht von der Schule fliegt. Aber auch Milla hat es hier irgendwann nicht mehr ausgehalten. Sie ist ausgerechnet dorthin geflüchtet, wo sie am ehesten wieder straffällig werden kann. Seit einem Jahr ist sie weg und ich vermisse sie unheimlich. Wir haben uns so oft nachts weggeschlichen, sie ist aus der WG abgehauen und ich bin aus meinem Fenster geklettert. Max hat mich ziemlich oft gedeckt, manchmal habe ich das Gefühl, dass er meine beste Freundin auch als seine kleine Schwester sieht. Wir genießen die nächsten Tage, denn meine beste Freundin muss ausnahmsweise nicht arbeiten und hat keine Vorlesungen. „Charlie, wenn mir jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass ich studieren würde und alleine wohne, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Wie crazy ist das bitteschön, dass wir plötzlich erwachsen geworden sind? Wann ist das überhaupt passiert?", fragt sie und ich werde nachdenklich. Bin ich wirklich erwachsen? Von meinen Freunden bin ich die einzige, die noch zu Hause wohnt. Statt zu studieren und etwas mit meinem Abi anzufangen, mache ich eine Ausbildung. Ich habe mir einen Beruf ausgesucht, der zwar eine Zukunft hat, der mich körperlich aber auch ziemlich fertig macht. Hätte ich nicht doch lieber studieren sollen und etwas richtiges lernen? Mit meinem Beruf werde ich nicht die Welt verdienen, aber es ist wirklich nötig, viel Geld zu verdienen, um glücklich zu sein? Ist es nicht viel mehr die Art und Weise, wie wir unser Leben gestalten, die uns glücklich macht? „Natürlich macht Geld nicht glücklich. Wie kommst du denn noch so eine blöde Idee? Außerdem muss nicht jeder studieren. Ich könnte niemals in der Pflege arbeiten und du hast meinen vollen Respekt, dass du das kannst.", tröstet mich Milla.

Als ich am Bahnhof ankomme, steht da schon mein Bruder, der mich sofort in den Arm nimmt. Auch mein Papa ist da, der sich ausnahmsweise mal für sein Verhalten entschuldigt. Ich habe das Gefühl, dass ich bald krank werde, ich muss ziemlich viel husten. „Charlie, du hast Nasenbluten.", bemerkt meine Schwester, als wir zu Hause ankommen. „Das habe ich in letzter Zeit öfter, das geht gleich wieder weg.", beruhige ich sie und mache mir nicht weiter Gedanken darüber, dass mir mein Körper ein fettes Warnsignal geschickt hat. So, jetzt genieße ich aber die letzten freien Tage, bevor die Ausbildung anfängt und ich wieder einen mental breakdown nach dem anderen habe. Der Beginn an einer neuen Schule kann für jeden Schüler eine gute oder die schlimmste Erfahrung der Welt sein. Der erste Schultag kann nervenaufreibend und überwältigend sein. Es ist ganz natürlich, Angst davor zu haben, ob man überhaupt neue Freunde finden kann und sich an eine neue Umgebung anzupassen. Für mich ist es die Hölle auf Erden. Diese verdammte Orientierungslosigkeit regt mich auf.  Die Wände sind kahl, das Licht flackert und es stinkt nach leidenden Schülern, Tod und verderben. Kurz gesagt, ich bin vermutlich in Silent Hill gelandet. Die Schülerinnen und Schüler brüllen laut durcheinander und ich erleide einen absoluten Kulturschock. „Ich bin Frau Schoppe, Ihre Klassenleiterin für die nächsten zwei Jahre.", stellt sich die Lehrerin vor. Ich bin relativ gelangweilt und hoffe, dass der Tag schnell vorbeigeht und wir bald mit dem Unterricht anfangen. Leider muss ich zugeben, dass ich in den letzten zwei Jahren ein kleiner Streber geworden bin. Nachdem wir ziemlich doofe Kennenlernspiele gespielt haben, erfahren wir etwas über die Ausbildung. Wie gesagt, am liebsten würde ich direkt mit dem Unterricht starten, aber das kann ich wohl Knicken. Nachdem wir uns einen ewig langen Vortrag von unserer Lehrerin reinziehen mussten, haben wir endlich Pause. Mit meinen Klassenkameraden kann ich nicht allzu viel anfangen, entweder sind sie meiner Meinung nach komplett gestört oder sie sind mindestens zwanzig Jahre älter als ich und wollen nichts mit mir zu tun haben. Generell komme ich ja sowieso eher mit Leuten klar, die älter als ich sind, aber die denken dann meistens, dass ich noch nicht erwachsen bin. Dieses Alter nervt mich ziemlich, die Erwachsenen sehen mich als Baby und die Leute, die zwei Jahre jünger sind, als ich, sehen mich als Erwachsene. Kann ich nicht einfach fünf Jahre älter sein? Dann wäre das alles mit Sicherheit anders.

Serotonin | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt