Prolog

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Das Telefon klingelte schon eine ganze Weile, bevor die Gestalt im zerwühlten Bett sich endlich regte. Sie gab ein dumpfes Stöhnen von sich, gefolgt von einem gemurmelten Fluch und richtete sich in Zeitlupe auf. Zu Tage kam ein großer, kräftiger Mann mit zerzausten, schulterlangen pechschwarzen Haaren, einem seit mindestens vier Tagen nicht mehr rasierten Gesicht und dem verquollenen Aussehen eines Menschen, der seit geraumer Zeit die Nacht zum Tage gemacht hatte und dessen Kondition nun am Ende war. Der ehemals dunkle gesunde Hautton eines Südeuropäers war zu einem fahlen Grau verblasst, selbst die schwarzen Haare auf der breiten, muskulösen Brust wirkten ausgeblichen und ließen die Goldkette, die verdreht um den Hals hing und sich in den Haaren verfangen hatte, wie ein Überbleibsel aus besseren, gesünderen Zeiten wirken.

Der Mann fluchte nach wie vor und tastete nach dem Telefon, verzog dabei schmerzvoll das Gesicht und ließ das Schrillen doch noch ein paar Atemzüge über sich ergehen. Der Schmerz in seinen Eingeweiden war einfach zu stark, immer noch, nach so vielen Tagen. Diesmal hatte man ihn wirklich übel erwischt und er schwor zwischen allem Ächzen und Stöhnen Rache. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Telefon und unterdrückte den Ärger, der nun ihm aufstieg, da der Anrufer es wagte, seit bestimmt vier Minuten nicht aufzulegen. Die roten Ziffern seines Weckers zeigten 04:51 an.

Mit einem dunklen Ächzen hob er den Hörer ab und ließ sich zurück ins Bett fallen. Geistesabwesend kratzte er sich im Schritt, schnaufte ins Telefon und signalisierte dem Anrufer damit, dass abgenommen worden war.

»Nicholas?«

Wach auf, befahl er seinem Hirn, wach auf!

Die Stimme, eine Frauenstimme, redete schnell weiter, bevor er auch nur irgendetwas sagen konnte. Es schien wichtig zu sein, Sprachgeschwindigkeit und Intonation verrieten es ihm, ohne dass er bewusst drauf achtete, doch sein Unterbewusstsein schien schneller zu sein als er. Mit einem plötzlichen Adrenalinschub wurde er hellwach, richtete sich auf, schwang die Beine herum und presste den Hörer fester ans Ohr.

»Linda?« Das tiefe Atmen am anderen Ende der Leitung bestätigte ihn in seiner Vermutung. Die Frau hatte sich seit Jahren nicht mehr bei ihm gemeldet. Er war tatsächlich überrascht, dass sie diese Nummer kannte, doch er wusste gut, wie hartnäckig sie sein konnte, wenn sie etwas bekommen wollte, und wenn es nur seine private Telefonnummer gewesen war.

Sein Körper fing an zu kribbeln, die Schmerzen wurden verdrängt, die Helligkeit der Lampe, die er mit einem ungezielten Patschen anschaltete, tat das Übrige.

»Jetzt noch mal langsam - was willst du, Linda?«

»Oh, ich... Wie geht es dir?«, fragte sie gekünstelt fröhlich, und er konnte sich ihr angespanntes Gesicht plötzlich wieder bildlich vorstellen, als würde allein ihre Stimme Bilder und Erinnerungen in ihm hochspülen: Das nervöse Kratzen an der Nase, die sonst so strahlenden blaugrünen Augen klein und verkniffen, die freie Hand unruhig zappelnd.

»Lin, du hast mich nicht deshalb angerufen, also - was ist los?«

Die Frau lachte nervös, irgendetwas fiel von irgendwo herunter und sie fluchte laut und vulgär, schien nach dem Ding zu treten, das heruntergefallen war und hielt hörbar die Luft an, als müsse sie sich zwingen, wieder zur Ruhe zu kommen.

Nicholas war von einer Sekunde zur anderen wie elektrisiert. Alle seine Sinne schienen gleichzeitig wach zu werden - denn Linda war kein Typ, der sich durch Kleinigkeiten aus dem Konzept bringen ließ, das hatte sie sich im Laufe vieler, vieler Jahre abgewöhnt. Er strich sich seine dunklen Haare aus dem Gesicht und stellte fest, dass die Delle an seinem Schädel kaum mehr zu spüren war.

»Linda, komm schon, was ist los?«, zischte er und fragte sich, warum er mit einem Mal selbst so nervös war.

Schließlich fing die Frau an zu sprechen und an dem tiefen Atmen, als hole sie verdammt viel Luft für verdammt viel Gerede, ahnte Nicholas, dass seine Nacht wohl vorbei war.

Blutsilber - Die Zeichnung der FeuerträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt