01 - Die Welt ist nicht größer als das Fenster, das du ihr öffnest

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Die Reise hatte begonnen, fuhr es Nuvay durch den Kopf, während der Wind weich um ihre Haare und über ihre Haut strich. Es frischte langsam auf. Sie flogen hoch über den Ber­

gen, unter ihnen zog träge die Landschaft vorbei und über ihnen schwebte noch der Himmel. Die Sonne ging allmählich unter, so lange flogen sie schon. Ab und zu hatten sie einige Pausen eingelegt, um die Beine zu vertreten, doch die meiste Zeit verbrachten sie in der Luft. Ihr Tag verging ziemlich ereignislos, bis auf die Momente, an denen sich Kaleb seltsam verhielt. Einmal hatte er sich plötzlich an einen Berg geklammert und dort länger als eine viertel Stunde verharrt und ein anderes Mal hatte er sich in die Baumkrone des Waldes unter ihnen geworfen. Nuvay hatte deswegen sicherlich im­ mer noch einige Äste und Blätter in den Haaren. Bei beiden Malen hatte Kaleb einen Drachen oder mehrere in der Ferne gewittert.

Nuvay war mit ihren Gedanken und mit ihrem Geist oft noch beim Abschied. Das letzte Bild hatte sich ihr ins Gedächtnis ge­ brannt, denn es blitzte immer und immer wieder vor ihrem inneren

Auge auf und erweckte aufs Neue die Trauer in ihr. Den anderen ging es wahrscheinlich genauso.

Ihr Magen knurrte, was ihre Gedanken von vorhin verdräng­ te, und sie verzog ihr Gesicht. Sie hatten seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Ihnen war einfach nicht nach Essen zumute gewesen, doch so langsam fing ihr leerer Magen an, sich zu melden. Simôn bewegte sich und sie hörte ihn von hinten sagen:

»Ich glaube, dass reicht für heute. Wir sollten vielleicht end­ lich eine Pause einlegen.« Seine Stimme war rau, vermutlich vom Schweigen. Sie spürte seinen Atem an ihrem Nacken und es jagte ihr einen leichten Schauer über den Rücken. Nach all der Kälte er­ wachte eine wohlige Wärme in ihrer Brust. Sie nickte.

»Kaleb?«, fragte Simôn. Kaleb grunzte und auch sein Grunzen klang rauer als sonst.

»Wir sollten uns langsam einen sicheren Platz für die Nacht su­ chen. Wir sind hungrig und müde.«

Er nickte, sagte aber nichts. Dafür drehte er abrupt nach links und Nuvay musste sich erschrocken festhalten.

»Langsam, Drache!«, brummte Nakim von hinten. »Kannst es wohl kaum erwarten uns loszuwerden.«

Kaleb lachte heiser und Nuvay lächelte. Das war nach dem Ab­ schied heute das erste Lächeln in ihrem Gesicht. Sie hatte vermisst, wie selbst ein kleines Lächeln diese sanfte Freude in ihrer Brust er­ wachen ließ. Langsam flogen sie nach unten und landeten vorsich­ tig auf einer Waldlichtung. Als Nuvays Füße wieder den weichen Erdboden berührten, kam es ihr immer noch so vor, als würden sie fliegen. Ihre Beine fühlten sich so weich an und sie knickte ein.

»Alles okay mit dir?«

Nakim stand neben ihr und sah auf sie herab. Die Hände in sei­ nen Hosentaschen. Helfen war ja noch nie so seine Stärke gewesen. Nuvay nickte ihm zu und setzte sich auf den Boden. Sie streckte ihre Beine aus.

»Es geht«, sagte sie leise.
»Na ja, nach Gehen sieht's mir hier gerade nicht aus.«
Nakim grinste schief. Sie erwiderte das Lächeln und sagte et­

was lauter: »Ha, ha« Dabei fing sie an, ihre Beine zu massieren. »Sie sind halt nicht dran gewöhnt, so lange in einer Position zu verharren.«

»Sie sind einfach nur schwach!«, meinte Nakim. Nuvay verdreh­ te die Augen.

»Wie auch immer, Nakim. Wie auch immer.«
Sie blickte zu Kaleb auf. Er hatte es sich hinter ihr auf dem Bo­

den bequem gemacht und redete mit Simôn. Sie konnte nicht ver­ stehen, über was sie sich unterhielten. Dann erhob sich Kaleb und Simôn griff nach seiner Tasche und kramte darin herum. Nakim beobachtete sie ebenfalls.

Nuvayla - Suche nach der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt