Systemlos

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In wenigen Tagen werde ich mein Abitur Zeugnis in den Händen halten. Und was dann? Ich habe grobe Ideen. Ich will herausfinden, wer ich bin. Was ich machen möchte. Vielleicht möchte ich reisen. Aber ganz sicher möchte ich leben. 

Doch das ist einfacher gesagt, als getan. Sich nicht direkt in ein Studium zu stürzen, das man nach einem Semester wieder abbrechen wird, weder eine Ausbildung zu machen noch zu arbeiten, das ist in Deutschland nicht vorgesehen. Es gibt keinen offiziellen Status für das, was ich sein werde. Ich will ungefähr ein Jahr Zeit für mich, bevor ich unausweichlich Teil unseres Arbeitssystems werde. Ist das wirklich zu viel verlangt?

Natürlich ist das nicht verboten, es ist aber auch definitiv nicht vorgesehen. Wer nicht arbeitet, keine Ausbildung macht oder einen Freiwilligendienst absolviert, dem steht in Deutschland kein Kindergeld zu. Und warum? Bin ich einfach nur zu privilegiert oder zu egoistisch, dass ich das fordere? Dass ich das Gefühl habe, es ist ungerecht? Dass ich dieses bisschen Zeit für mich haben will und trotzdem möchte, dass meine Eltern weiterhin Kindergeld bekommen können?

Manchmal bin ich mir nicht sicher.

Manche sagen, wenn ich nichts zur Gesellschaft beitrage, steht mir auch keine Unterstützung zu. Aber was ist das für ein System? Wie kann ich zur Gesellschaft beitragen, indem ich dazu gedrängt werde, voreilig Entscheidungen zu treffen, die mich unglücklich machen werden? Ich bin doch ein Mensch!

Ich brauche Zeit, um das für mich zu klären, um danach etwas machen zu können, was für mich und vielleicht auch für Andere gut und "produktiv" ist.

Ich bin damit nicht mal alleine. Wenn doch fast jede zweite Person nach dem Abitur erstmal ein sogenanntes gap year macht, warum ist das dann nicht Teil des Systems? Muss ich mich wirklich absichtlich bei Unis bewerben, die mich nicht interessieren, um mit Absagen nachzuweisen, dass ... Ja was eigentlich?

Ich fühle mich dazu gedrängt, sozusagen zu schummeln. Obwohl das ja nicht verboten ist. Aber warum muss das so sein? Warum gibt es nicht einen Platz für mich und für die unzähligen Anderen?

Ist unsere Gesellschaft so verkommen, dass wir für sie als Menschen nichts Wert sind, bis wir sie reicher machen? Das ist doch unverschämt. Es macht mich traurig. Und ein klitzekleines bisschen wütend bin ich auch.

Aber einem System, in dem es für mich oder für uns momentan keinen Platz gibt, dem bin ich auch nichts schuldig.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 29, 2022 ⏰

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