Sie wusste nicht, wo sie war. Vorgestern war sie mit ihren Freunden zu einem Campingausflug in den Wald aufgebrochen. Alle waren voller Vorfreude, auch auf ihr schlussendliches Ziel. Sie waren viel gewandert und die Stimmung war heiter.
Letzte Nacht hatten sie einen guten Platz auf einer Lichtung gefunden, um dort die Zelte aufzuschlagen. Aber als sie aufgewacht war, waren ihre Freunde weg. Einfach verschwunden.
Jetzt rief sie ihre Namen, aber niemand antwortete.
Sie lief einige Schritte in jede Richtung, aber sie fand keine Spuren.
Gegen Mittag, sie war seit dem frühen Morgen umhergeirrt, überkam sie ein großes Hungergefühl. Aber alle ihre Sachen waren weg. Kein Essen, keine Wechselklamotten. Immerhin hatte sie eine Trinkflasche und ihren Schlafsack bei sich gehabt. Es war, als hätten ihre Freunde niemals existiert.
Am Abend ließ sie sich gegen einen Baum sinken. Der Hunger nagte an ihr. Ihr wurde schwindelig. Das Wasser hatte sie schon früh leergetrunken. Der Stamm war hart in ihrem Rücken und es roch ein wenig nach Harz.
Gegen Mittag des dritten Tages fand sie eine große, mit Moos bedeckte Fläche zwischen den Bäumen. Hier war es feucht und sie nahm ihr Halstuch, drückte es in den Boden, um die Feuchtigkeit aufzusaugen.
Es war nur ein Tropfen in einer Wüste, verstärkte das Durstgefühl nur noch weiter.
So langsam gab sie die Hoffnung auf, jemals wieder hier wegzukommen. Die anderen waren bestimmt schon über alle Berge. Warum hatten sie sie verlassen?
Vielleicht, weil sie gemein zu ihnen war. Das war sie immer. Sie hatte es nicht zu schätzen gewusst, was sie für sie taten. Sie nutzte die anderen aus, wo sie nur konnte. Sie erkannte es jetzt.
Das nannte man dann wohl Karma. Vielleicht hatten sie sie auch mit Absicht zurückgelassen; hatten die Gelegenheit genutzt.
Sie lief weiter. Zum Glück war es kein heißer Tag. Es zogen sogar Wolken auf. Wenn sie Glück hatte, könnte sie irgendetwas bauen, um das Wasser aufzufangen. Und sie fand einen Beerenstrauch. Auch wenn die Beeren ihren Hunger nicht ganz stillen konnten, es war besser als zuvor.
Der Regen setzte bald darauf ein und sie suchte sich einen Platz unter einem Baum. Verzweiflung ergriff sie. So mussten sich auch Hänsel und Gretel gefühlt haben. Sie wurde nass bis auf die Haut und fing an zu frösteln. Wie dumm von ihr, die Flasche wegzuschmeißen. Aber irgendwann hatte sie keine Lust mehr gehabt, diesen unnötigen Ballast zu tragen. Jetzt musste sie dafür bezahlen. Sie hielt den Mund offen nach oben und fing so ein paar Tropfen auf. Wenigstens etwas.
Dennoch, die Verzweiflung ließ nicht nach. Sie war im Kreis gelaufen. Sie war wieder in der Moosebene, auf der sie vorhin ein wenig Wasser sammeln konnte. Auch ihre Gedanken rannten im Kreis. Um die schlechten Dinge, die sie ihren Freunden angetan hatte. Sie hatte sie immer unterdrückt, um ihren Willen durchzusetzen. Allerdings hatte sie es stets so subtil gemacht, dass die anderen es nicht merkten. Sie war nie für sie dagewesen, aber ihre Freunde mussten selbst um 3 Uhr in der Früh an ihr Handy gehen, wenn sie sie anrief. Ansonsten war sie sauer und nachtragend.
Sie hatte ihre Freunde ständig mit ihren Problemen vollgeheult. Und sie mussten zuhören. Immer.
Wenn ihre Freunde ihr etwas erzählten, hörte sie nicht zu. Denn es hatte sie nicht interessiert. Warum hatten sie das mitgemacht? Sie wusste keine Antwort.Aber das war nicht mehr wichtig, auch, wenn es falsch gewesen war. Ihren Freunden würde sie einen Gefallen tun, wenn sie endgültig verschwinden würde. Die Verzweiflung schlug um in Akzeptanz und Gleichmütigkeit.
Wie witzig. Wäre sie früher mit ihren Freunden hier vorbeigekommen, hätte sie diesen Ort vermutlich als magisch beschrieben. Dieser Moosboden und die Bäume, durch die das Licht nur schwach bis zum Waldboden durchließen. Hier würde sich eine Elfe gut machen. Wie schön. Sie konnte sie sehen, wie sie über die Ebene tanzte. Ja, und jetzt einfach mit ihr tanzen und die Augen schließen...
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Die Legende von Cavelona
Short Story"Jetzt rief sie ihre Namen, aber niemand antwortete. Sie lief einige Schritte in jede Richtung, aber sie fand keine Spuren." Als sie während eines Campingurlaubes mit Freunden eines Morgens aufwacht, steht sie allein im Wald. Selbst nach mehrtä...