Hawkins

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Ich wache in meinem neuen Zimmer auf. Die erste Nacht in Hawkins ist überstanden und war gar nicht mal so schlimm. Sonnenstrahlen zwängen sich durch die dunkelroten Gardinen, die Tante Joyce als Sichtschutz aufgehängt hat. Mein Zimmer befindet sich nämlich im Erdgeschoss des Hauses und Spaziergänger können leicht durch das große Fenster hineinsehen. Hier war vorher Jonathans Zimmer, aber er hat jetzt den großen Dachboden bekommen, damit ich hier einziehen konnte. Meine Eltern sind seit letztem Jahr geschieden, da mein Vater, der auch Joyces Bruder ist, ein Alkoholproblem hat. Mama ist ziemlich schnell mit ihrer Affäre Rob zusammengezogen. Die beiden wollten mit mir nach Kanada auswandern, aber ich brauchte unbedingt eine Auszeit, weshalb Joyce mich bei ihr aufnahm. Vor allem aus dem Grund, dass sie auch mal ein anderes weibliches Wesen mit im Haushalt haben wollte. In meiner Heimat Derry hatte ich nicht sonderlich gute Freunde und eine spannende Freizeit. Darum war ich die Monate vor dem Umzug schon euphorisiert genug auf mein neues Leben. 
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Gestern bin ich also mit dem Zug hier angekommen. Am Bahnhof haben mich Joyce und meine Cousins Will und Jonathan empfangen. Es war so schön, sie endlich wiederzusehen und in die Arme schließen zu können. Als wir mit dem Auto zu unserem Haus gefahren sind habe ich schonmal einen kleinen Eindruck von Hawkins bekommen. Es unterscheidet sich so gewaltig von Derry, aber gerade das brauche ich. Hier erscheint einem alles so viel wärmer und aufgeweckter und nicht so beklemmend kühl wie in meiner Heimat.
Es hat gut getan als Familie beim Abendessen am Tisch zu sitzen und gemeinsam zu lachen. Ich kannte dieses Gefühl von Geborgenheit bisher noch nicht so richtig. Als Einzelkind, dessen Eltern den ganzen Tag arbeiten oder saufen waren und man dazu noch keine Freunde besaß, hatte man keinen Gesprächspartner, mit dem man auch einfach mal über belangloses Zeug quatschen konnte.
Nach dem Essen sind wir alle müde ins Bett gegangen, da wir nach dem langen Tag ziemlich erschöpft waren. Am Vormittag hatten meine Cousins extra einige Möbel, die Joyce gebraucht gekauft hatte oder noch von sich übrig hatte, aufgebaut. Das Bett mag ich am liebsten, da es doppelt so groß ist, wie mein altes. Außerdem hat Joyce mir noch Schrank, Regal und Schreibtisch ergattern können. Es sind nicht die angesagtesten Möbel und die Farben des Holzes passen auch nicht wirklich zusammen, aber das interessiert mich nicht. Noch fühlt sich alles so neu an, das Zimmer ist wie eine leere Leinwand auf der ich mich austoben kann. Das hier wird mein zukünftiger Rückzugsort werden , in dem ich mich so wohl wie möglich fühlen möchte. Aber das tue ich ja jetzt schon. Im Flur stehen all meine Kartons, die von einem Umzugsunternehmen nach Hawkins transportiert worden sind. Eigentlich habe ich nicht viele Gegenstände bei mir, es gibt nur eine Sache, die mir sehr wichtig ist und die unbedingt heile hier angekommen sein musste. Und das war meine E- Gitarre. Ich spiele seit der fünften Klasse, da mein Vater großer Fan von Metal Bands ist und ich mit dieser Art von Musik aufgewachsen bin. Zwischen den anderen Kartons erspähe ich den etwas längeren auf dem mit rotem Filzer „Gitarre" geschrieben steht. Aus der Küche hole ich mir ein Cutter Messer, um das Klebeband durchzuschneiden, mit dem der Karton zugetaped ist. Vorfreudig öffne ich ihn. Innen befindet sich eine gute Polsterung aus Papier, die ich erstmal aus dem Weg schiebe, um endlich meinen Schatz zu erblicken. Mit einem Grinsen hebe ich meine Gitarre hoch und drehe sie etwas, um ihren Zustand zu überprüfen. „Dir ist nichts passiert", sage ich und gebe ihr einen Kuss.
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Auch die anderen sind gerade wachgeworden. Jonathan kommt in Boxershorts und Tshirt die Treppe runter. Seine Haare stehen in seltsame Richtungen ab. „Morgen", nuschelt er. „Guten Morgen", antworte ich und folge ihm in die Küche. Joyce ist bereits angezogen und bereitet gerade das Frühstück vor. „Trinkst du gerne Kaffee?", fragt sie mich. „Ja, jeden Morgen." „Iih", meint Will, der gerade in die Küche kommt, „Kaffee ist doch viel zu bitter." „Und bestimmt total ungesund, wenn man das so oft trinkt", wirft Jonathan ein. „Naja", sagt Will, „jeden Tag zu kiffen ist auch nicht gesund." Ich fange an, laut los zu lachen, aber Joyce funkelt die beiden Jungs nur warnend an. Dabei bleibt es.
Nachdem ich mir aus meiner Reisetasche ein Outfit herausgesucht habe, fange ich damit an, die restlichen Unzugskartons auszupacken. Will bietet mir Hilfe beim Auspacken an, aber ich lehne dankend ab. Lieber möchte ich dabei meine Ruhe haben. Ich sortiere meine Klamotten in den Schrank ein und verstaue meine Kassetten und Schallplatten in dem Regal. Endlich habe ich mal die Zeit dazu, um meine Musik nach Bands und Genre zu ordnen. In meinem alten Haus war mein Zimmer ein einziges Chaos. Dazu kommen noch meine Bücher, die ich über die Jahre angesammelt habe. Zum Glück reicht das Regal für all die Sachen aus. Schon jetzt fühle ich mich in diesem Zimmer mehr wie ich. Stolz stelle ich meine E-Gitarre neben das Regal und betrachte mein Werk. „Fehlen nur noch die Poster", denke ich mir. Und davon habe ich echt Unmengen. Sie alle habe ich vor dem Umzug sorgsam zusammengerollt und in Kisten verstaut. Darunter befinden sich Poster von Bands, aber auch Kinofilmen. Das Poster von dem neuen Film „Stand by me" habe ich gestern erst im Bahnhof bei einem Kiosk gekauft. Ich hänge es mit Klebeband über mein Bett. Zudem hängen eine Stunde später Ozzy Osbourne, Alice Cooper, Blondie und Jack Nichelson in „The Shining" an den Wänden.

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