Kapitel 2

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Astrid

Der mir fremde Junge war auf die Nachrichten gebannt, die er schrieb und bekam. Ich allerdings hatte höllische Angst und saß so nah an der Tür, wie es nur ging. Wieso musste es einer in meinem Alter sein? Ein älterer Mann wäre zwar nicht besser gewesen, aber es machte mir Angst, dass er so jung war.
   Die Limousine fuhr mit einem kleinen Ruck los, der Junge steckte sein Handy in seine Tasche und sah mich dann an. Er musterte mich erst, bevor er sprach.
   »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nichts tun«, sagte er in einem sanften Ton. Seine Stimme war nicht so tief, wie die des Fahrers, aber man hörte, dass er im Stimmbruch gewesen war.
   Allerdings war ich verwirrt durch seine Worte. Ich drückte die Augenbrauen zusammen.
   »Wie ... wie meinen Sie das?«, sagte ich zögerlich.
   »Ich werde dich zu nichts zwingen. Ich werde dich nicht einmal anfassen, wenn du es so möchtest.«
   Ich starrte verwirrt in seine Augen; er sah mich weiterhin wunderlich an und wartete auf meine Antwort. Zuerst öffnete ich meinen Mund, aber als nichts raus kam, schloss ich ihn wieder. Keine Ahnung, was ich darauf sagen sollte.
   Dann lächelte er, als fände er meine in Falten gelegte Stirn und mein nachdenkliches Gesicht komisch.
   »Du weißt wirklich nicht was du sagen sollst, oder?«, sagte er und ich hörte einen Hauch Belustigung in seiner Stimme.
   Ich wusste es allerdings, nur nicht, wie ich es sagen sollte. Zum einen wollte ich wissen, was zur Hölle er dann hier machte, zum anderen wusste ich nicht, ob ich ihm glauben sollte - ich kannte ihn ja gar nicht!
   Irgendwie sammelte sich alles in meinem Kopf, ordentlich verstaut und bereit Frage für Frage freizugeben.
   »Wieso bist du dann hier? Wenn du nichts machst, wieso sollte ich dann die Woche zu dir? Außerdem, wieso sollte ich es dir glauben?«, sagte ich und verschränkte die Arme. Mir fiel jetzt erst auf, dass ich gar nicht mehr so angespannt war, sondern eher ein wenig wütend. Ich musste mich auf die Schule vorbereiten, arbeiten und dazu meinem Vater helfen! Da war es nicht gerade gut einfach eine Woche zu verschwinden und nichts zu machen.
   »Weil ich zu einer Organisation gehöre, nämlich der Anti Menschen Verkauf Organisation, kurz auch AMVO, und unser Spezialgebiet ist es, Mädchen wie dich zu retten.
Du wirst nicht nur diese Woche bleiben, sondern auch noch die danach, denn sonst müsstest du ja wieder zu deinem Vater zurück.
   Wieso du mir glauben solltest«, er zuckte mit den Schultern, »weiß ich nicht, aber du wirst es ja gleich alles selbst sehen.«
   Ich starrte ihn fassungslos an. Eine Organisation? Die Mädchen wie mich rettete? Gab es das überhaupt? Und ich würde Freitag nicht nach Hause zurückgehen? Sollte ich dann etwa dort bleiben? Log er denn?
   Meine Augen starrten in seine und er starrte zurück. Sein Gesicht war ausdruckslos und trotzdem freundlich. Irgendetwas sagte mir, dass er die Wahrheit sagte, aber mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass ich lieber nicht zu voreilig handeln sollte.
   »Okay, dann glaube ich dir, jetzt«, sagte ich und betonte das letzte Wort. »Aber wehe du sperrst mich in einen Schuppen oder Keller und fesselst mich und folterst mich anschließend.«
   Bei der Bemerkung musste er grinsen. »Keine Sorge, diese Phase habe ich hinter mir«, scherzte er. Ich sah ihn an und vermittelte, dass das nicht komisch war.
   »Wie heißt du eigentlich? Meinen Namen kennst du ja anscheinend«, sagte ich dann, um das Thema zu wechseln.
   »Ich bin Hicks, Hicks Haddock«, antwortete er mit einem freundlichen Lächeln und hielt mir seine Hand hin.
   Ich nahm sie; seine Hand war warm und angenehm weich. Benutzte er Handcreme? Warum interessierte mich das?
   »Wo fahren wir jetzt eigentlich hin?«, fragte ich und sah aus dem Fenster. Häuser huschten an uns vorbei, Bäume waren nur ein braun-grüner Fleck und Fußgänger waren Striche in der Landschaft.
   »Wir fahren zu unserem Stützpunkt.«
»Stützpunkt? Gehört ihr zum Militär?«
   Er lachte auf. »Schön wär's, aber nein, gehören wir nicht.«
   »Und wo ist dieser Stützpunkt?«
   »Am Rande von Berk. Es dauert eine Weile bis wir dort sind, also mach es dir gemütlich.«
   »Klar, gleich war es doch gelogen und meine Handgelenke werden an die Sitze gefesselt.« Es war erstaunlich, wie schnell ich keine so große Angst mehr hatte und mit ihm redete, als wäre er ein alter Schulfreund.
   Jetzt lachte er auf. Und sein Lachen war göttlich. Trotzdem war ich verwirrt. Wieso lachte er? Hatte ich etwas im Gesicht, was er jetzt erst gesehen hatte? Und wenn schon, ich musste ihm ja nicht gefallen, wenn er nichts mit mir machte.
   »Entschuldige, aber ich glaube du hast zu viel Fernsehen geguckt. Handgelenke an die Sitze fesseln? Und dann was? Ich betäube dich und vergewaltige dich dann? Also ehrlich, habe ich nicht vor fünf Minuten noch gesagt, dass wir Mädchen wie dich retten? Du musst Menschen mal mehr vertrauen«, sagte er und ließ das Lächeln auf seinem Gesicht.
   Jetzt war ich wütend. Nicht jeden Tag passierte mir so etwas und ja, könnte sein, dass ich ein wenig übertrieben hatte, aber trotzdem. Noch dazu wurde mein Vertrauen schon genug missbraucht.
   »Schön, dass du dich amüsierst. Mein Vertrauen schenke ich erst Menschen, die ich wirklich kenne«, sagte ich und sah wütend aus dem Fenster.
   »Was ist passiert?«, fragte er nach einer kurzen Weile. Seine Stimme war leise und wieder sanft, mit ein wenig Ernsthaftigkeit.
   »Was soll passiert sein? Das ist einfach gesunder Menschenverstand«, antwortete ich ein wenig patzig.
   »Bei solchen Dingen steckt immer jemand dahinter, der jemandem wehgetan hat.«
   Ich sah ihn wieder an. Mittlerweile saß er zurückgelehnt und beobachtete mich. Sein Lächeln war verschwunden und es sah aus, als wäre er bereit mir zuzuhören.
   Vielleicht interessierte es ihn ja wirklich, dachte ich.
   Sein Blick wich nicht von mir, weshalb ich leise seufzte. »Bis vor fast vier Jahren war alles ganz normal. Ich hatte tolle Eltern, die sich um mich kümmerten, Freunde, die immer für mich da waren und sogar einen festen Freund. Jetzt kann ich sagen, dass ich das niemals hätte zulassen sollen, aber damals.« Ich zuckte mit den Schultern. »Als meine Mutter krank wurde, entfernten sie sich alle von mir, immer weiter und weiter. Desto schlimmer es wurde, desto weiter weg schienen sie zu sein. Besonders mein ach so toller Ex. Das war echt die schwerste Zeit in meinem ganzen Leben. Meine Mutter hatte nämlich ALS, die Krankheit, wo nach und nach deine Gehirnzellen absterben, bis du stirbst. Sie waren nie da, sie kannten alle meine Mutter, aber nie kam einer zu Besuch.
   In der Schule waren sie ein wenig offener. Sie fragten mal, wie es ihr ginge, aber das war es dann auch schon. Ein wenig später, als meine Mutter schon so schwer erkrankt war, dass sie im Rollstuhl sitzen musste und eigentlich nichts mehr tun durfte, kam dann heraus, dass mein Ex und meine tolle alte beste Freundin miteinander seit Wochen schliefen. Und seine Ausrede war, dass ich ihn nicht ran ließ - ha! Ich war so wütend auf ihn gewesen, dass ich auf dem Schulhof rumschrie und es jeden erfahren ließ. Sollte er sich doch durch jedes Mädchen an unserer Schule ficken, es hatte mich kein Stück interessiert.
   Man hatte ihn und sie dann im Hausmeisterraum dabei erwischt. Das war ziemlich peinlich für die beiden. Sie sind zum Glück beide weggezogen. Leider hatte ich dann noch meinen Vater. Er war immer öfter betrunken und sein Chef sagte ihm, dass er vorrübergehend gefeuert wäre, um sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Hat ja super funktioniert; seit diesem Tag musste ich zur Schule, hatte mehrere Jobs die Woche und musste dann noch den Haushalt dazwischen schieben. Aber es klappte, worüber ich echt froh war.«
   Ich holte kurz Luft. »Aber ich war allein. Jeder wusste, wie es meinem Vater erging und sie schlossen mich alle aus, wichen mir aus, selbst die, die ich nicht kannte. Neue Schüler, die an unsere Schule gekommen waren, wussten es und wichen mir aus. Irgendwann konnte ich damit leben, aber es war ein trauriges Leben, ein Teufelskreis.«
   Wieder musterte er mich. Ich sah zurück mit Tränen in den Augen. Meine Wut war verschwunden, nur noch Erinnerungen und Trauer waren da. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemandem alles erzählt hatte. Mir hatte bisher nie jemand zugehört; er war der Erste.
   »Das ist ...«, setzte er an, schloss den Mund aber wieder. Erbärmlich? Peinlich? Bescheuert?, beendete ich es in meinem Kopf.
   Ich wollte nicht in Tränen ausbrechen, also wechselte ich unser Thema, nämlich von mich auf ihn.
   »Und du? Wieso bist du dabei und das alles?«
   Er machte mit der Hand eine wegwerfende Geste. »Mein Vater leitet diese Organisation. Vor Jahren, das müssten jetzt fast acht sein, hatte ich noch eine Schwester. Sie war zwei Jahre älter als ich gewesen. An meinem zehnten Geburtstag kam sie nicht von der Schule nach Hause zurück, weshalb ich ihn abblies und meinen Eltern bei der Suche half. Wir fragten Nachbarn, ihre Freunde und sogar ihre Lehrer, aber niemand konnte uns Auskunft geben. Nach vierundzwanzig Stunden benachrichteten wir dann die Polizei. An diesem Tag ging ich nicht zur Schule.
   Tage später, ich weiß heute nicht mehr wie viele, fand man ihre Leiche. Sie war an einem Flussufer gefunden worden. Ihren Entführer fand man nie, aber er hatte sie geschlagen, vergewaltigt und dann im Fluss ertränkt.«
   Er hielt kurz inne und atmete ein paar Male. »Danach war alles ganz anders. Aber mein Vater hatte sich geschworen, dass er sich dagegen einsetzen würde. Wenn er helfen konnte, dann würde er es tun. Deshalb gründete er die AMVO, damit niemand so etwas wie meine Schwester erleben müsste. Und ja, wir wissen, dass wir nicht immer und jedem helfen können, aber wenn wir es können, dann tun wir es auch.«
   Ich starrte ihn verdutzt an, die Augen weit aufgerissen, Arme verschränkt. Dann blinzelte ich öfters hintereinander. Das hatte mir echt die Worte geraubt. Das dieser Junge solch eine Geschichte verbarg, da wäre ich nie draufgekommen. Und noch dazu seine eigene Schwester!
   Ich musste sagen: Er hatte sich meinen Respekt und mein Vertrauen verdient - und das innerhalb einer halben Stunde! Ich glaubte ihm, wenn ich in seine Augen sah, dann konnte ich sogar den Kummer und die Trauer sehen. Er tat mir leid; das war schrecklich.
   »Ich ... äh ... das tut mir leid«, brachte ich seltsam hervor.
   »Ich hoffe, dass du mir jetzt glaubst. Niemand wird dich an die Sitze fesseln und vergewaltigen. Ich zumindest nicht.«
   Ich nickte mit einem ernsten Blick.

Nicht lange später glitt die schwarze Glaswand herunter und wir konnten duch die Vorderscheibe sehen. Alles um uns herum war ländlich; Felder erstreckten sich an den Seiten und wir fuhren längst nicht mehr auf Asphalt. Das erklärte auch, weshalb es so ruckelte zwischendurch.
   »Wir sind jetzt da, Mr. Haddock«, dröhnte die tiefe Stimme des Fahrers zu uns nach hinten.
   »Okay, vielen Dank, Roger«, antwortete Hicks. Also so hieß der Typ. Roger, der muskulöse Limousinenfahrer. Ich musste lächeln.
   Wir wurden langsamer und bogen leicht nach links. Dann blieben wir vor einem kleinen, aber langen Rasenhügel stehen. Wieder runzelte ich die Stirn.
   »Willst du mich doch in einem Wald ermorden?«, sagte ich und starrte den Wald an, der sich rechts neben dem Hügel erstreckte.
   »Wer hat gesagt, dass wir in den Wald gehen?«, bekam ich als Antwort.
   Roger drückte auf einer kleinen schwarzen Fernbedienung einen grünen Knopf und der Hügel öffnete sich. Eine Klappe, wie auf einer Autofähre, öffnete sich in den Hügel. Es sah aus, wie eine ganz normale Tiefgarage, wenn man mal kurz vergaß, dass wir mitten im Nirgendwo waren und sich gerade ein Hügel geöffnet hatte.
   Roger setzte uns in Bewegung und fuhr langsam in den Hügel hinein. Mehrere Autos rechts und links von uns parkten hier, mal waren es Limousinen, mal ganz normale, die man auf jeder Straße sah. Wir fuhren ein Stück nach hinten und ich beobachtete die Klappe, als sie sich wieder schloss. Dann drehte ich mich wieder um.
   »Wieso habt ihr so viele Autos?«, fragte ich.
   »Wir benutzen die Limousinen, um die Mädchen abzuholen, die anderen gehören meinen Freunden; mein Vater hat hier auch eines stehen, genau wie meine Mutter. Ein paar Mitarbeiter, die in der Nähe wohnen, ebenfalls. Ist eben unsere eigene Garage«, sagte Hicks, als wäre das in jeder Familie der Fall.
   Roger öffnete mir die Tür und hielt mir seine Hand hin. Ich wollte meine Tasche aus dem Kofferraum holen, aber die hatte Hicks schon. Jetzt konnte ich ihn ganz betrachten. Natürlich war er größer als ich, fast jeder war das. Seine Jacke hatte er ausgezogen und das weiße Hemd zeichnete seine leichten Muskeln ab.
   Vor einer stählernen Tür blieben wir stehen. Sie sah aus wie ein normaler Fahrstuhl aus dem Einkaufszentrum. Meine Vermutung wurde bestätigt, als es »Pling« machte, und die Türen sich öffneten. Von innen war er viel größer, für vier oder vielleicht fünf Personen.
   Hicks drückte einen der Knöpfe und der Fahrstuhl fuhr los. Er ruckelte und ich stolperte; meine Hand griff automatisch nach Hicks' Arm.
   »Alles in Ordnung?«, fragte er.
   Ich summte als Einverständnis und ließ ihn los. Meine Wangen nahmen wieder diese blöde Röte an, die ich immer unterdrücken wollte. Das passierte mir jedes Mal, wenn ich in einen Aufzug ging. Das war manchmal ziemlich peinlich. Außer einmal, da hatte ich die Nummer eines süßen Jungen bekommen. Ich hatte ihn nie angerufen.
   Wieder machte der Aufzug »Pling« und kam zum Stehen. Die Türen gingen auf und wir verließen diesen Käfig der Hölle. Zusammen standen wir in einem langen Korridor mit vielen Türen an den verschiedenfarbigen Wänden rechts und links von uns.
   Hicks setzte sich in Bewegung und ich sprintete hinterher. Mit seinen langen Beinen machte er ziemlich große Schritte.
   Ich wette, der spielt Basketball oder Fußball, dachte ich mir, als ich ihn von der Seite betrachtete.
   In diesen Gemäuern würde ich mich auf jeden Fall verlaufen, das wusste ich. Als wir ein paar Mal abgebogen waren und mein Kopf schon schwirrte, blieben wir endlich stehen. Ich sah auf die Tür vor uns. In schwarzen Buchstaben stand die Zahl 117 auf der weißen Tür.
   »Das ist dein Zimmer«, sagte Hicks und zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Er drehte ihn im Schloss und öffnete die Tür. Als er das Licht einschaltete, wurde das Zimmer sofort erhellt. Ich staunte: Es war viel größer als mein altes.
   Ein Kleiderschrank aus, was? Mahagoni? Ja, es war Mahagoni! Er war viel zu groß, für meine wenigen Besitztümer. Ein Himmelbett und ein Schreibtisch mit einem drehbaren Stuhl waren ebenfalls im Zimmer. Eine Kommode und ein längeres Regal mit mehreren Fächern waren ebenfalls aus Mahagoni.
   Mein Mund blieb offen stehen. Aus dem Staunen würde ich wohl nie wieder rauskommen. Hicks stellte meine Tasche mitten im Zimmer ab und sah lächend in mein Gesicht.
   »Du hast jetzt ein paar Minuten Zeit zum auspacken, dann komme ich zurück und hole dich zum Essen ab.«
   Vorsichtig nahm er meine Hand und legte den Schlüssel hinein. Dann drückte er mein Kinn vorsichtig nach oben.
   »Pass auf, sonst kommen noch die Fliegen rein.« Und mit diesen Worten verließ er mein neues Zimmer und ließ mich in diesem Paradies alleine zurück.

Meine Rettung, bevor ich zur Sexsklavin wurdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt