TW: drug withdrawal, addiction
"Schmerz ist ein realitätsverzerrender Zustand. Aus diesem Grund tun Menschen in dieser Gefühlslage Dinge, die sie später, in einem Moment, in dem sie wieder klar denken und sehen können, oft bereuen"
Julian wollte seine Eltern aus dem Haus haben. Komischerweise war das in diesem Moment seine größte Sorge. Er wollte nicht, dass sie bei der sich anbahnenden Konfrontation anwesend waren.
Julian mochte seine Eltern. Sehr sogar. Aber sie waren nie diejenigen gewesen, zu denen er kommen konnte, wenn er Probleme hatte. Er mochte es sie einige Male im Jahr zu besuchen und sie auf den neusten Stand in seinem Leben zu bringen. Sie waren meistens die letzten, die irgendetwas von ihm mitbekamen. Ironischerweise. Sie hatten schon oft darüber gestritten. Aber es hatte sich nie etwas geändert. Julian hatte die Vermutung, dass das einfach daran lag, dass er gezwungen gewesen war, sich schon früh wie ein Erwachsener zu verhalten. Vielleicht hätte Julian weniger Probleme, wenn er die Möglichkeit hätte sich mit ihnen an seine Eltern zu wenden. Aber die hatte er nicht und es brachte auch nicht wirklich etwas jetzt darüber nachzudenken. Das einzige, was Julian wirklich mit seinen Eltern und vor allem mit seinem Vater verband, war der Erfolg im Fußball. So traurig es auch war, er würde niemals in der Lage sein, seinem Vater seine Probleme zu schildern. Aus diesem Grund wollte er seine Eltern nicht im Haus haben.Außerdem ging es Julian schlechter. Ihm selbst fiel es mittlerweile gar nicht mehr auf. Kai fiel es auf. Er wollte das Julian Wasser trank. Julian trank Wasser. Er wollte das Julian sich ausruhte. Julian ruhte sich aus. Julian erzählte Kai von seinem Wunsch, seine Eltern nicht im Haus zu haben, wenn Marco und der Arzt ankamen. Kai stand auf. Es dauerte lange. Zwanzig Minuten starrte Julian die Decke des Gästezimmers an, bevor Kai zurückkam. Er sagte, er hätte sich darum gekümmert. Julians Eltern würden nicht da sein. Julian fragte nicht was Kai seinen Eltern erzählt hatte. Kai war schon immer gut mit seinen Eltern klargekommen. Kai liebte seine ganze Familie. Er traf sich häufig mit Julians Brüdern, redete mit seinen Eltern, alle liebten ihn. Kai war ein Familienmensch. Julian war es nicht. Seine eigene Familie sah Kai nie. Julian wusste nicht was vorgefallen war, aber er wusste, dass es einen Streit gegeben hatte. Vor ungefähr einem Jahr noch war Kai untröstlich gewesen, so weit weg von seiner Heimat leben zu müssen. So weit weg von seiner Familie. Das war vorbei. Sie hatten, soweit Julian wusste, keinen Kontakt mehr. Nur seine Schwester besuchte Kai ab und zu. Julian hatte nie gefragt. Kai hatte nie erzählt was passiert war. Kai war in diesem einen Jahr reifer geworden. Erwachsener. Vielleicht lag es einfach daran. Julian wollte das glauben. Er wusste, dass mehr dahinter steckte aber er hatte keine Kraft gehabt darüber nachzudenken. Er hatte es nicht gewollt. Er hatte Kai nicht leiden sehen wollen. Das hatte sich mittlerweile geändert. Es war ihm egal, ob er Kai traurig oder glücklich sah. Er wollte ihn einfach nur sehen. Ihn um sich haben. Immer. Es war ein so schlichter Gedanke, dass es fast lustig war, dass dies der Gedanke war, der Julians Blick auf ihre Freundschaft veränderte, der bei ihm zu einer Realisation führte.
Denn während Kai Havertz schüchtern in der Tür stand, ein schwieriges Gespräch mit Julians Eltern hinter sich hatte und nun nicht wusste, ob er das Zimmer betreten oder draußen bleiben sollte und Julian schief anlächelte, und Julian Brandt auf dem Bett des Gästezimmers saß, den Kopf an die Wand gelehnt mit pochenden Kopfschmerzen, sah er es ganz klar: Er wollte nicht nur mit Kai befreundet sein. Er wollte so viel mehr.*
Ein Gefühl von Kälte hatte von Julian Besitz eingenommen. Er zitterte mittlerweile stärker als noch am Morgen und auch seine Umgebung schien sich verändert zu haben. Julian roch Salz und hörte ein Rauschen. Es fühlte sich an, als wolle sein Kopf aus der Realität fliehen und Julian erlaubte es. In seinem Inneren war er weit weg. Er war am Strand an der gleichen Stelle, an der sie gestern gewesen waren nur einige Jahre zuvor. Er hatte Kai diesen Ort damals gezeigt und Kai hatte nach all der Zeit, die seit dem vergangen war, immer noch den Weg gewusst. In seinen Gedanken war Julian wieder dort. Mit Kai. Er saß nicht in dem weiß-blau dekorierten Wohnzimmer seiner Familie. Saß nicht eingekuschelt in eine Decke und Kais Hoodie, der ihm etwas zu groß war, neben diesem. Er wartete nicht zusammen mit Kai auf die Ankunft von Marco und er war auch nicht krank. In seinen Gedanken ging es Julian gut. Dort hatte er keine Probleme.
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I just wanna feel again ~ Bravertz
Fanfictionfüh·len /fǘhlen/ schwaches Verb mit dem Tastsinn, den Nerven wahrnehmen; körperlich spüren "einen Schmerz, die Wärme der Sonne fühlen" Tastend prüfen, feststellen "[jemandem] den Puls fühlen" seelisch empfinden "etwas instinktiv fühlen" Tastend nac...