Liebe

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Alice war innerlich noch immer so aufgewühlt und durcheinander, dass dies selbst Dr. Miller nicht entging, als dieser am nächsten Tag, gemeinsam mit ihr, die Mittagspause im Freien verbrachte. Sie saßen, wie immer, auf ihrem unumstrittenen Stammplatz, auf einer kleinen Holzbank, die sich an einem schattigen Plätzchen, direkt unter einer hochgewachsenen Eiche befand. Ihre grünen Blätter wogten sanft im Wind.

Alices graue Pupillen, die in Farbe und Melancholie, den herannahenden Wolken so ähnlich waren, blickten umfokussiert und nichtssehend in die Ferne.

,,Alice'', wiederholte der junge Arzt zu ihre linken, nun zum vierten Mal, doch die junge Frau reagierte noch immer nicht auf seine Worte. Sie schien völlig in Gedanken versunken zu sein. Erst als er damit drohte ihr Dessert zu verspeisen, schenkte sie ihm augenblicklich all ihre Aufmerksamkeit.

,,Das wagst du nicht!'', rief sie empört, suchte nach ihrem Teller, den sie jedoch nicht fand, da Sam ihn bereits einige Zentimeter entfernt von ihr, in seiner Hand hielt.

,,Oh doch! Es sei denn du sagst mir, was los ist. Was bedrückt dich, Alice?''

,,Ich, ich...''

Sie konnte es ihm einfach nicht sagen.

Nicht, weil sie sich schämte oder Sams Reaktion fürchtete, sondern weil sie wusste, was es für Waylon bedeuten würde, wenn sie die Wahrheit preis gab.

Sie wusste, welche Konsequenzen, das Geschehene für all ihre Patienten haben würde.

Von seiner Angst getrieben, würde Dr. Arkham dafür Sorgen, dass Waylon nie wieder das Tageslicht erblicken würde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit, dürfte sie keinen ihrer Patienten wiedersehen. Und im aller schlimmsten Fall, würde er sie dieses Mal tatsächlich der Klinik verweisen. Er würde alles tun, um Alice Sicherheit zu gewährleisten. Selbst wenn es bedeuten würde, dass er sie in einen anderes Land verfrachten müsste.

Und Sam, der gutmütige und zuvorkommende Mann, würde Alice direkt ans Messer liefern. Nicht aus Boshaftigkeit oder Missgunst, dessen war sie sich vollkommen bewusst. Beide würden im besten Sinne handeln, nicht ahnend, dass dies eben genau der falsche Weg wäre.

Es wäre der Weg der Furcht, der Angst, und der Stagnation.

Denn würde Alice nun aufgeben, jetzt da sie spürte, dass eine gewisse, wenn auch kleine Veränderung in manchen der Patienten vor sich ging, nun da sich Waylon ein Stück geöffnet hatte, würde alles beim Alten bleiben. Der alte Trott würde sich wieder einschleichen und mit ihm, die allumfassende und nicht enden wollende Hoffnungslosigkeit.

Und das konnte sie einfach nicht zulassen.

,,Es ist alles in Ordnung, Sam'', sagte sie anstelle der Wahrheit.

Selbst in ihren Ohren klangen ihre Worte hohl und fremd, doch Dr. Miller besaß genügend Anstand es dabei zu belassen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, aber er wollte Alice nicht bedrängen und lieber darauf warten bis sie ihm ganz von alleine sagte, was sie bedrückte.

                                                                          ~~~*~~~

Als Alice noch am selben Tag Killer Crocs Welt betrat, wurde sie von nichts, außer Stille begrüßt. Es war so ruhig, dass sie sich nicht sicher war, ob er überhaupt da war.

,,Waylon?'', rief sie sanft, ihre zarte, klare Stimme hallte von den Gesteinswänden wieder und lockte ein Wesen an, das mehr Tier als Mensch war.

Das langsam und ungesehen aus dem Schatten heraus auf sie zutrat, seine schwarzen Pupillen zu schmalen Schlitzen verengt.

Bevor Alice auch nur einen weiteren Laut von sich geben konnte, traf sie sein Angriff so schnell und unvermittelt, wie ein Blitzschlag.

Ein weiteres Mal war sie unter Waylons unmenschlichem Gewicht gefangen.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt