"The moment you doubt you can fly, you cease for ever to be able to do it"
- Peter PanJulian hatte kaum geschlafen. Es war eine von den schlimmen Nächten gewesen. Seine Augen brannten, während er versuchte sie aufzuhalten und sein Kopf konnte den Anblick von Kai nicht verdrängen. Die ganze Nacht hatte er in seine tränenden Augen blicken müssen. Die ganze Nacht war ihr Gespräch in seinem Kopf umhergegeistert und obwohl er sich seines Albtraumes bewusst gewesen war, war er nicht aufgewacht.
Das war ein Phänomen, was zuletzt häufig aufgetreten war. Julian konnte aufwachen. Er konnte sich selbst von seinen Schmerzen erlösen. Er tat es nur nicht. Er ließ sich selber leiden, weil es nicht anders ging. Weil das der einzige Weg für ihn war, Kai zu sehen und er ihn so sehr vermisste, dass er das in Kauf nahm. Es mochte leichtsinnig sein. Naiv. Sonja hatte ihm geraten alle belastenen Situationen fürs Erste zu vermeiden. Sie wusste nicht, dass Julians ganzes Leben eine ständige Belastung darstellte. Und sie wusste nicht, dass er seinen einzigen Komfort in seinem größten Schmerz fand.Heute war der Schmerz besonders groß. Heute wollte Julian davor wegrennen. Weil er nichts spürte, wenn er rannte. Nervös saß er auf der Bank am Spielfeldrand und beobachtete das Spiel gegen Stuttgart. Eines seiner Beine zitterte unruhig und er blickte hektisch hin und her. Es war noch immer kein Tor gefallen. Um sie herum wurde das Publikum langsam unzufrieden. Ihr Trainer lief aufgebracht hin und her. Julian fühlte sich mehr als unwohl. Er wusste, dass er nicht eingewechselt werden würde. Das ganze Spiel lang würde er noch in seiner Position auf der Bank ausharren müssen. Julian versuchte ruhig zu atmen. Er hatte mit Sonja darüber gesprochen, was er in so einer Situation tun sollte. In einer Situation, in der er Angst haben musste die Kontrolle zu verlieren. Sie hatte ihm geraten, sich auf etwas zu fokussieren. Seine ganze Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Person oder ein Objekt zu legen und darin Halt zu finden. Julian sah auf den Ball. Er beobachtete den Ball, wie er hin und her getreten wurde. Wie Pässe ausgeführt oder auch verfehlt wurden. Er war so versunken in seine Analysen von den Pässen, dass er es viel zu spät sah. Es war eine schnelle Bewegung, nichts augenscheinlich Schlimmes, aber es sollte verheerende Folgen haben.
Gio lag am Boden. Er war verletzt. Es schien, als würden alle Anwesenden die Luft anhalten. Gio war gerade erst wieder gesund. Kam gerade erst aus einer langen Verletzungsphase. Es sollte sein erstes Rückrundenspiel sein und es war schon vorbei für ihn, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Mitleid. Julian spürte es in sich aufsteigen. Gio hatte es von allen am wenigsten verdient Schmerzen zu spüren. Der Moment des Schocks verging. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Leben kam in den Trainerstab. Sie fingen an zu diskutieren. Gio wurde verarztet. Julian konnte sehen, dass er weinte. Es brach ihm das Herz. Er hatte normalerweise nicht viel mit Gio zu tun, trotzdem waren sie ein Team. Litt einer, litten sie alle. Aber Julian hatte keine Zeit mehr, sich viele Gedanken darüber zu machen. Der Trainer winkte ihn zu sich. Julian wusste, was das bedeutete. Er würde spielen.Julian wollte spielen. Das wollte er immer. Er war Fußballer. Das war sein Beruf. Aber auf eine so kurzfristige Einwechslung war er nicht vorbereitet gewesen. Er war für dieses Spiel eigentlich nicht einmal geplant. Niemand hatte auf ihn gesetzt. Zögerlich begann er sich aufzuwärmen. Es musste alles schnell gehen. Sie spielten nur zu zehnt und sie durften Stuttgart keine Gelegenheit für ein Tor geben. Es ging um viel. In diesem Moment spürte Julian den Druck auf seinen Schultern stärker als in den Spielen davor. Sie hatten mit einem Sieg geplant. Gio sollte ein Trumph sein. Sie mussten gewinnen. Und jetzt war Gio nicht da, sondern er, als Notlösung. Es war nicht wie bei den letzen Spielen, bei denen er sich hatte verstecken können. Bei denen es egal war, ob er da war oder nicht. Es war auch nicht wie bei dem Augsburgspiel, bei dem er Mut durch die niedrigen Erwartungen an ihn gefunden hatte. Heute beobachteten ihn alle ganz genau. Heute war er der Joker. Julian schluckte leicht.
Während er auf seinen Wechsel wartete und etwas verloren am Spielfeldrand stand, betrachtete er sein neues Tattoo. Er versuchte sich an die Glücksgefühle des vergangenen Spiels zu erinnern. Er wollte sie wieder spüren. Gerade nach der letzten Nacht brauchte er sie mehr denn je.
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I just wanna feel again ~ Bravertz
Fanficfüh·len /fǘhlen/ schwaches Verb mit dem Tastsinn, den Nerven wahrnehmen; körperlich spüren "einen Schmerz, die Wärme der Sonne fühlen" Tastend prüfen, feststellen "[jemandem] den Puls fühlen" seelisch empfinden "etwas instinktiv fühlen" Tastend nac...