Mercy

511 30 22
                                    

TW: might be triggering (slight metioning of trauma, negative self-talk and supressing thoughts)

"Where are the people?” resumed the little Prince at last. “It’s a little lonely in the desert…” “It is lonely when you’re among people, too,” said the snake.
-Le Petit Prince

Kais POV

Sie hatten ihn gewarnt. Ihm war gesagt worden, dass es in London regnerisch sei. Das war es auch. Statistisch gesehen regnete es in London 149 Tage im Jahr. Das waren ungefähr 41% aller Tage, die durch die Wassermassen verloren gingen. Es regnete insgesamt etwa 62 cm pro Jahr. Das waren 5 cm im Monat. Eine Menge. Es regnete durchschnittlich im Sommer in London genauso oft und genauso viel wie im Winter. Ein trauriger Fakt. Kai hatte das alles ausgerechnet, während er in seinem neuen Apartment saß und die Tropfen an seinem Fenster zählte. Die sonst so erleuchtete Stadt vor ihm, war ein einziger grauer Schleier. Der Ausblick war mehr als deprimierend. Durch den Regen wirkte alles dunkler, als es eigentlich war. Kai aber, konnte nicht die notwendige Kraft aufbringen, aufzustehen und das Licht in seiner Wohnung anzuschalten. Er saß seit Stunden einfach nur da. Eigentlich war er über die Dunkelheit erleichtert. Er wollte das Apartment nicht sehen. Es war kalt. Weiß. Er hatte seine Taschen noch nicht ausgepackt. Die Möbel waren noch unberührt. Nur eine Decke hatte er sich genommen. Mit der Hoffnung sie würde ihm etwas Wärme spenden,  hatte er die letzten Stunden auf dem Boden vor der Fensterfront verbracht. Er zitterte leicht. Er fühlte sich belogen. Sie hatten ihn zwar vor dem Regen gewarnt, aber niemand hatte ihm von der Kälte erzählt.
Es war kalt. Bitterkalt. Eigentlich war das komisch. Die Durchschnittstemperatur lag in England fast immer über dem Gefrierpunkt. Es schneite hier nicht. Es gab keinen Grund für Kai zu frieren. Er fror trotzdem. Bitterlich. Seit Tagen schon. Zuerst hatte er die Befürchtung gehabt, krank zu werden. Er war gesund geblieben. Körperlich ging es ihm gut.
Danach hatte er gedacht, dass es einfach ein ungewöhnlich kalter Winter in der Hauptstadt war. Aber das war es nicht. Niemand außer ihm schien die Kälte zu bemerken oder als Last zu empfinden. Die erhellende Erkenntnis war ihm vor ein paar Tagen gekommen. Die Kälte kam nicht von außen. Sie kam aus seinem Inneren. Und sie war schrecklich. Seitdem er das erkannt hatte, fror er ununterbrochen. Zuhause, beim Training, nachts und am Tag. Die Kälte war immer da. Sie war wie Eiswasser in seinen Lungenflügeln. Es war ein schrecklich vertrautes Gefühl. Jede Sekunde versuchte Kai den Gedanken an den Ursprung des Gefühls zu verdrängen. Die Hände an seinem Hals, das Gefühl des Fallens, das Wasser über und unter ihm und überall...
Er dachte nicht daran. Eine Fähigkeit, die mehr Nachteile als Vorteile hatte. Kai konnte Gedanken und Erinnerungen für immer aus seinem Kopf verbannen. Hatte er schon immer getan. Wenn er nicht daran denken wollte, tat er es auch nicht. Nie. Die Kälte war trotzdem da. Wie ein fernes Echo seiner Erinnerung. Kai musste sich notgedrungen etwas überlegen um damit umzugehen. Schließlich ließ sich kein Mensch selbst erfrieren. Kai wollte sich selbst keine Schmerzen zufügen. Er wollte sich selbst beschützen. Denn, wenn Kai eins gelernt hatte, dann das es keinen größeren Schmerz gibt als den, den du dir selber zufügst. Natürlich haben andere Menschen Mittel, die du nicht hast, aber du bist dir am Ende des Tages am Nächsten. Du verbringt dein ganzes Leben mit dir. Die Erkenntnis, dass du dich selbst nicht magst ist tödlich und die Schmerzhafteste von allen. Diese Erkenntnis wollte Kai nicht machen. Nicht nochmal. Sein Überlebensinstinkt war dieses Mal zu groß.

Er wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah auf das, was vor ihm auf dem Boden lag. Sein Handy, das er seit Tagen nicht mehr in der Hand gehabt hatte und ein Buch. Es war ein Buch, was weit mehr war als nur das. Es war sein treuester Begleiter. Es war eine alte Ausgabe des kleinen Prinzen. Sie gehörte seinem Großvater. Er hatte sie immer bei sich. Schon zu Zeiten, in denen er noch nicht hatte lesen können. Sie enthielt unzählige Notizen und Skizzen am Rand. So viele, dass sie fast schon als Erinnerung galt. Diese wollte Kai vermeiden, deshalb ignorierte er das Buch. Sein Handy ebenfalls. Er hatte nichts von dem gesehen, was die Medien über ihn geschrieben hatten. Es war ihm egal. Die Medien und die Meinungen anderer, sie kümmerten ihn nicht wirklich. Er war gut bei Chelsea angekommen oder hatte es zumindest so aussehen lassen. Auch hier galt sein Ruf als ruhiger Spieler. Er hatte in den vergangenen Spielen stets eine konstante Leistung abgerufen und hatte seiner Mannschaft mit gezielten Bewegungen weitergeholfen. Hatte Tore geschossen, Vorlagen gegeben und vor allem, niemanden Anlass zur Kritik bereitet. Er machte sich keine Sorgen über seine Karriere, seine körperliche Verfassung. Er musste sich noch nicht mal Sorgen um sein Leben oder Geld machen wie so viele andere. Sein Kopf war es, um den sich gesorgt werden sollte. Kai schluckte alles hinunter. Verdrängte bis zum Vergessen. Und wann immer Erinnerungen in ihm hochkamen, verdrängte er sie mit den gewohnten Argumenten.
Erinnerungen. Erinnerungen sind lustig. Nein, das sind sie nicht. Sie sind traurig. Alle sind sie das. Egal was für welche. Die Schönen, sind traurig, wenn du auf sie zurück blickst. Wenn du dir nichts sehnlicher wünschst, als die Zeit zurück zu drehen, aber genauso sind die Traurigen traurig. Einfach weil sie traurig sind. Also eigentlich gibt es sowas wie glückliche Erinnerungen gar nicht. Sie sind ein Mythos.

I just wanna feel again ~ BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt