MEIN Blick bleibt an einer kleinen Gestalt hängen, die allein auf einer Schaukel sitzt. Ihre dürren Beine baumeln in der Luft hin und her, derweilen ihre Haare sich sanft in dem Wind bewegen.
Unruhe erfasst mich.
Ich schaue mich um, doch hier, auf dem Spielplatz, ist sonst niemand mehr. Allein das entferne Rauschen des Meeres und das leise Quietschen der eingerosteten Scharniere des Gerätes erfüllen die salzige Luft.
Dem stechenden Gefühl der Angst gebe ich nach und gehe langsam zu dem Mädchen herüber, dessen Blick auf ihre Füße gerichtet ist. Sie schaut nicht mal auf, als ich direkt vor ihr stehe und sanft das Wort an sie wende.»Hallo, bist du ganz allein hier?«
Ihre Antwort kommt ohne ein Zögern. »Ja.«
Ich bin kurz erstaunt, dann fasse ich mich wieder. »Wo sind deine Eltern?«
»Fort. Sie haben gesagt, dass sie mich abholen kommen.«
»Wie lange ist das denn schon her?«, möchte ich zaghaft wissen und mustere das weiße Kleid genauer, welches mir aus unerfindlichen Gründen irgendwie bekannt vorkommt.
»Keine Ahnung. Eine Weile?«
»Wohin sind sie denn hingegangen? Vielleicht kann ich dich zu ihnen bringen?«, schlage ich vor, obwohl ich nicht mal weiß, wo ich überhaupt bin.
»Ich habe sie davongehen sehen.«
»In welche Richtung sind sie gelaufen?«
»Hinauf. Den Hügel hinauf. Da wo die große Eiche steht.« Sie sieht immer noch nicht auf.
Mein Blick wandert den kleinen Berg hinauf, auf dem ein mächtiger Baum steht, dessen Krone einen riesigen Schatten auf den Boden wirft. Man meint seine Krone aufgrund der blendenden Sonne gar nicht sehen zu können.
»Was liegt denn da hinter?«, frage ich mit der wagen Bezweiflung, dass das Mädchen mir eine Antwort darauf geben kann.
»Nichts.«
»Nichts?«
Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht damit.»Ich war noch nie dort oben, aber ich denke, dass es dort nichts gibt.«
Mein Magen zieht sich plötzlich krampfhaft zusammen und mich durchströmt das Gefühl gleich umkippen zu müssen.
»Du hast doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich mich kurz zu dir setze, oder?«Die Kleine schüttelt ihren Kopf.
Die Schaukel ist etwas zu klein für mich und ich befürchte, dass sie mein Gewicht tragen wird, doch zu meinem Erstaunen hält sie.
»Wie heißt du eigentlich? Ich heiße Emilia.«
»Ili.«
Der Name hallt dumpf in meinem Kopf wieder, aber das komische Gefühl ist so schnell wieder verschwunden, dass ich es nicht weiter hinterfrage.»Was machst du gerne, Ili?«
»Ich mache vieles gerne.«
Stille.
»Malst du gerne?«
»Nein, aber meine Eltern. Er hat gesagt, dass sie richtige Künstler sind.«
Er?
»Ich sammle lieber Dinge und bewahre sie in kleinen Kästchen auf.«
Ein Lächeln umspielt meine Lippen. »Das habe ich auch früher gemacht.«
Ein Windstoß kommt auf. Ihr Kleid wird aufgebauscht und ihre Haare werden ihr aus dem Gesicht gezerrt, während das Rauschen der Wellen immer lauter wird, da der Wind ihre krachenden Laute zu uns trägt.
Das Erste was mir auffällt als ich sie an sehe, sind die schwarzen Flecken an ihrem Kleid - ihrem Nachtkleid. Daraufhin fallen mir auch die dunkelbraunen Rehaugen auf, die sich hinter mausbraunen Mähne versteckt hatten. Ihr Gesicht ist schmal und ihr Ton beinahe so bleich, als würde sie nie das Haus verlassen. Ruß klebt an ihren Wangen.Ich erschrecke mich so sehr, dass ich von der Schaukel falle.
Hart schlage auf dem Boden auf.
Sie sieht mich an.
In ihren großen Seelenfenster erkenne ich mich wieder.
Nein!
Ich erkenne mich nicht nur darin wieder, ich bin sie.
Sie ist ich.Ili. So hatte mich Lilith immer genannt, als die das M noch nicht aussprechen konnte.
»D-... ich...«, stammele ich fassungslos.
Meine Kindheit.
Ich hatte sie an jenem Tag hinter mir gelassen.
Ich hatte sie genauso zurückgelassen, wie ich sie jetzt sah.
Ich hatte sie im Stich gelassen.»Ili.«
»Ili ist verschwunden«, sagt sie. Plötzlich erscheint Bedauern in ihrem Blick. »Ich bin das, was zurückgeblieben ist.«
Der Kloß in meinem Hals wird immer größer und Tränen des tiefsten Bedauerns treten mir in die Augen.
»Es tut mir leid«, presse ich wimmernd hervor. »Es tut mir leid, Ili. Alles, was geschehen ist.«Mein Herz reist auf und der Schmerz, all der vergessene Schmerz, dem ich all die Jahre in meine Brust gedrängt habe, bricht aus.
Wie Blut aus einem Stich Mitten ins Herz herausströmt, fließt jener aus seinem Kästchen heraus.
Zu viel ist darin gesammelt worden.
Zu viel hat dieses aushalten müssen.
Zu viel hat es mich geschmerzt.»Ich bin nicht dein Verschulden, Emilia«, entgegnet sie und holt zitternd Luft, während weitere salzige Spuren ihre Wangen herunterlaufen und sich mit den schwarzen Partikeln der Glut vermischen.
»Du hast mich nicht zurückgelassen.«In ihren Fingern hält sie verkrampft etwas fest. Ein Rinnsal aus Blut rinnt ihre kleine Hand herunter und tropft auf das Nachthemd.
»Ich habe es«, kreischt plötzlich eine tosende Stimme und ehe ich mich versehe, werde ich von Wassermassen erfasst.
Mein Kopf schlägt gegen etwas hartes und ich verliere kurzzeitig das Bewusstsein, derweilen meine Lunge weiter nach Sauerstoff, Erlösung, schreit.· · ─────── ·֍· ─────── · ·
Vielen Dank fürs Lesen.
826
DU LIEST GERADE
Goldene Erinnerungen | LCDP
FanficWenn du in der Zeit reisen könntest, welchen Augenblick würdest du dir aussuchen? Welchen Moment in deinem Leben würdest du gerne nochmal erleben? Welches Gefühl würdest du nochmal verspüren wollen? Es gibt viele Erinnerungen, die einem bei diesen F...