Die Zweckgemeinschaft [Herbst/Winter]

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Rolf liebte es, zu schnitzen. Er liebte es, wenn das Messer über das raue Holz schabte und unter seinen langen, spinnenbeinartigen Fingern aus einem Stück ungezähmter Natur etwas wunderschönes entstand. Und wann konnte man besser schnitzen als jetzt, im Herbst? Wenn draußen der Wind heulend durch den Wald jagte, die bunten Blätter von den Bäumen fegte und Regentropfen gegen die Höhle peitschten? Allein deshalb liebte er den Herbst wie nichts anderes, auch wenn…

Von außerhalb der Höhle waren plötzlich schwere Schritte zu hören, die Rolf aus seinen Gedanken rissen. Er ließ seine Schnitzarbeit liegen, sprang auf und lief nach vorne, in Richtung Eingang. „Elmond?“ „Ja“, erklang von draußen eine langsame, brunnentiefe, knirschende Stimme und der Stein im Höhleneingang bewegte sich langsam. Elmonds massiger Körper drückte von außen dagegen und schob den gewaltigen Felsbrocken Stück für Stück beiseite. Als er Platz genug geschaffen hatte, um ins Innere zu treten – was schon etwas heißen wollte –, wirbelte ein Windstoß ein paar Blätter und den Geruch nach feuchter Erde, Laub und Regen an ihm vorbei in die behagliche Unterkunft. Rolf zog fröstelnd die Schultern hoch und war dankbar, als sein Freund die steinerne Barrikade gegen die Kälte wieder vor die Tür schob.

Elmond drehte sich langsam, sehr langsam wieder um und setzte gemächlich einen Fuß vor den anderen. Mal ganz abgesehen davon, dass er sich als Steintroll ohnehin in einer anderen Geschwindigkeit bewegte als Rolf, war letzterer sehr dankbar für die Zeitlupenbewegungen seines Freundes – denn ein einziger von Elmonds Schritten könnte den kaum einen Meter großen Kobold so mühelos zermalmen wie eine Haselnuss. Apropos Haselnuss: Rolf hatte Hunger. „Und, was gefunden, Elmond?“ Die Augenlider des Steintrolls schlossen sich – öffneten sich wieder – der Kopf bewegte sich nach oben – nach unten – er nickte.

Nachdem er sich sehr, sehr langsam neben dem Feuer hingesetzt hatte, öffnete Elmond seine Hand und ließ eine ganze Wagenladung Äpfel und Nüsse in die dafür vorgesehene Schale kullern – und ein zartes, kleines Geschöpf, das aussah, als wäre es ein halbes Jahrhundert in einem Gletscher eingefroren gewesen.
„Was hast du denn da angeschleppt?“, fragte Rolf und beugte sich vor, um das Wesen genauer zu betrachten. Es war etwa halb so groß wie er, feingliedrig, mit spitzen Ohren, die unter dem borstig nach oben stehendem Haar hervorlugten.
„Elfe. Gefunden. Fast erfroren. Konnte sie schlecht einfach liegen lassen“, grollte der Steintroll. Das war also eine Elfe – die erste, die Rolf zu Gesicht bekam.

„Wenn du mich fragst, ist die längst erfroren“, gab er zu bedenken. Das kleine Ding war so steif gefroren wie ein mit Frost überzogenes Blatt und die eigentlich grüne Haut hatte sich in ein ungesund grelles Türkis verfärbt. „Und selbst wenn nicht, können wir wohl kaum noch etwas für sie tun. Aber Tatjana weiß das sicher besser. Tatjana?“, rief er in die scheinbar leere Höhle hinein, während er die Elfe auf den Kaminsims legte.
„Huiiiiiiii“, erklang zur Antwort ein hohl klingender Ruf und etwas, das aussah wie eine Rauchwolke, kam den Kamin hinuntergeschossen und materialisierte sich neben dem Kobold zu einem Mädchen, das aus grauen Schwaden zu bestehen schien. Rolf hatte nie verstanden, warum jemand, der zu 99% aus Wasser bestand, sich so gerne über dem Feuer aufhielt.

„Was gibt’s?“, fragte die nebelige Person in einer für ihre unbeständige Erscheinungsform überraschend kräftigen Stimme.
„Elmond hat eine Elfe aufgetrieben, lebt die überhaupt noch?“ Tatjana beugte sich über den ungewöhnlichen Fund, untersuchte ihn und verkündete dann: „Sie atmet, wenn auch schwach. Ich bin dafür, wir behalten sie hier.“
„Sie hierbehalten?“, wiederholte Rolf ungläubig. „Kommt nicht in Frage! Wenn sie jetzt schon fast an der Kälte zugrunde geht, wo der Herbst noch nicht einmal zur Hälfte vorbei ist, übersteht sie den Winter niemals. Das hat doch keinen Zweck.“
Die nebelige Gestalt fuhr herum und wenn etwas, das genau genommen keinen festen Körper hat, vor Wut zittern kann, tat Tatjana es. „Ich werde ein hilfloses Wesen ganz sicher nicht dem Tod überlassen, wenn ich es verhindern kann, nur weil der feine Herr Kobold kein Herz hat!“
„Aber du bist nicht die einzige hier, Miss Ich-rette-die-Welt! Ich dachte, wir hätten klargestellt, dass das hier…“, Rolf umschloss mit einer weit ausholenden Geste die ganze Höhle, „nur funktioniert, wenn wir uns aufeinander verlassen können! Alleingänge können wir uns nicht leisten, Tatjana, das weißt du ganz genau! Mach es nicht kaputt.“
„Du bist aber auch nicht der alleinige Bestimmer“, giftete seine Freundin zurück. „Wir sind doch hier, um unser aller Leben zu retten, oder etwa nicht? Und dieser Elfe muss ganz dringend das Leben gerettet werden!“ Die beiden starrten einander finster an, nicht bereit, nachzugeben, bis Elmonds tiefes Knirschen beide überrascht herumfahren ließ: „Nicht streiten. Elfe aufpäppeln – dann weitersehen.“
„Aber…“, begehrte Rolf auf. „Kein Aber. Du bist überstimmt. Pimpinella und Medea sehen das sicher wie ich“, triumphierte Tatjana. Da hatte sie vermutlich recht – wenn es nach den Gnomfräulein ginge, wäre diese Höhle voll von „hilfsbedürftigen“ Wesen, die sich im Winter nur zu gern von einem Steintroll durchfüttern ließen. Rolf knurrte nur und wandte sich dem Essen zu, denn es war seine Aufgabe in diesem ungewöhnlichen Bündnis, Mahlzeiten auf den Tisch zu stellen.

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