𝕂𝕒𝕡𝕚𝕥𝕖𝕝 𝟙𝟘𝟛

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Vincent beobachtete Dag aus dem Augenwinkel heraus, als sie spazieren gingen. Sie hatten etwas Luft bis zur Probe und nutzten die Zeit für eine kleine Auszeit.

Vorhin hatte er noch mit Katja telefoniert. Eigentlich behielt er immer alles für sich, was Dag ihm im Vertrauen erzählte, doch das Carla nicht schwanger war, hatte er ihr dann doch erzählt, als er sich ein wenig angefressen von Dags spontaner Aktion, vor ein paar Tagen, als er ihn alleine gelassen hatte, bei ihr ausgekotzt hatte.

Sie hielt es jedoch fürs Beste die Sache nicht Isabelle zu erzählen, denn ihre Freundin war nun in einer neuen Beziehung und das sollte sie sich nicht selbst kaputtmachen, indem sie über Dag nachdachte.

Vincent beobachtete ihn weiter. Ihm ging es nicht gut. Das merkte er. Irgendwie hat sein kurzer Trip nichts genützt und er war seitdem noch abwesender als sonst.

Auf der Bühne funktionierte er ... teilweise ... gelegentlich gab es mal Patzer, aber die lachte er weg. Außerhalb kam jedoch wieder sein wahres Ich zum Vorschein. Jenes, dass kaputt war. Ebenjenes, dass still geworden war.

... doch da war noch etwas.

»Rauchst du nicht mehr?« , fragte Vincent ihn.

Dag schüttelte den Kopf, während er auf dem Boden sah und weiterging. »Hab's reduziert. Vielleicht schaffe ich es ja ganz.«

Sein bester Freund runzelte die Stirn. »Woher der Sinneswandel?«

Er sah weiterhin auf dem Boden und zog kurz die Lippen ein, ehe er darauf antwortete. »Carla und ich wollen ein Kind und ... ich hab gelesen, das es hilft, wenn ich ein wenig gesünder in Erscheinung trete.«

»Stopp. Was?« Vincent blieb stehen und zog an Dags Arm, als dieser einfach weiterging.

»Sie beginnt mit der Hormon-Therapie und dann ...«

»Und dann? Dann spielst du Family Guy mit Carla oder was? Denkst du echt, das lässt deine Probleme verschwinden?«

»Ich hab keine Probleme.«

»Ja erzähl das der Parkuhr.«

»Dürfte ich mein eigenes Leben leben Herr Stein?«

»Natürlich darfst du das. Tu dir keinen Zwang an.«

»Dann hör auf, mir ins Gewissen zu reden.« Dag ging weiter.

Vincent sah ihm kurz nach und beschleunigte anschließend sein Tempo, um wieder neben ihm zu gehen. »Ich will dir nicht reinreden. Alles, was du tust, ist deine Sache. Du musst damit klar kommen. Und ... möglicherweise ist Carla ja diejenige, die wohl für dich bestimmt ist ... wer weiß das schon?! Und eventuell bekommt ihr noch ein Kind. Oder zwei oder drei. Auch das steht in den Sternen. Worum es mir geht, ist ... ich will nicht, dass du Dinge mit heißer Nadel strickst. Du ... deine Probleme verschwinden dadurch nicht.«

»Vielleicht ja doch.«

Vincent legte seinen Arm um dessen Schulter. »Wenn ich dir eine Subtraktionsaufgabe stelle, kann kein Summenwert bei rauskommen. Verstehst du?«

»Ich will doch nur ... ich will Normalität. Ich will ... mir fehlt etwas.«

»Dag ... ich verstehe dich ja, aber du versuchst krampfhaft, etwas aufzubauen oder etwas zu halten, aber ... das ist nicht dein eigentliches Problem.« , sagte er. »Es ist also keine Lösung.«

»Das weißt du nich'.«

Vincent steuerte eine Bank an und setzte sich hin. Dag blieb erst stehen und gesellte sich dann mit verschränkten Armen zu ihm. Lässig lehnte er sich zurück.

»Liebt er sie?« , fragte er schließlich.

»Wer?«

»Dieser Ben. Liebt er Isy?«

Vincent zuckte mit den Schultern. »So ein ... persönliches Gespräch hab ich bisher nicht mit ihm geführt.«

»Verhält er sich denn so?«

»Er scheint sie sehr anziehend zu finden.« Vincent fiel nichts anderes ein.

Dag schnaufte kurz auf. »Und sie?«

»Ich hab keine ...«

»Sie redet doch mit Katja, oder nicht?« , fiel er ihm ins Wort. »Was sagt sie? Ist sie ... ist sie glücklich?«

»Dag, ich weiß wirklich nichts.«

»Wann hat sie entschieden, mich nicht mehr zu lieben?« Seine Stimme hakte teilweise ab.

»Dag, ich ...«

»Nein, ich weiß. Ich sollte aufhören, darüber nachzudenken, aber ich schaffe es einfach nicht. Es klappt nicht. Ich ... ich vermisse sie.« Er kniff die Augen zusammen. »Scheiße. Ich vermisse sie, Vince. Einfach alles. Ich vermisse, wer wir waren. Ich ... ich sollte so nich' denken. Ich ...« Er atmete tief ein und schloss abermals für einen kurzen Moment die Augen. »Das ist nicht fair. Sie liebt mich.«

Vincent wusste, dass sein letzter Satz auf Carla gemündet war. »Und du?«

Dag positionierte sich anders und spielte an seiner Unterlippe herum. »Ich empfinde etwas für Carla. Alles andere wäre gelogen. Ob das Liebe ist? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich ... ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir darüber im Klaren, was ich für Isabelle empfinde ist ein anderes Gefühl, als das, was ich bei Carla verspüre.«

»Was genau verspürst du denn bei ihr?«

»Ich fühl mich wohl.« War das Erste, was ihm in den Sinn kam. »Ich mag das Gefühl von ihr ... gewollt zu werden. Geliebt zu werden. Verstehst du? Sie ... sie schafft es, mich auf andere Gedanken zu bringen. Zwar nicht auf Dauer, aber ... für eine gewisse Zeit.«

Ersatzdroge ... War nun das Erste, was Vincent durch den Kopf ging. Was er jedoch nicht aussprach. Denn auch das konnte einem Menschen helfen, wenn man zu sehr abhängig von etwas anderem war.

Vincent mochte Isabelle. Sie war für ihn, wie eine Schwester. Doch mit ihrem kalten Verhalten, ob beabsichtigt oder durch psychische Krankheit aufgetreten, hätte Dag auch eine andere Richtung einschlagen können ... und somit war sein, nennen wir es mal Methadon, lebensnotwendig geworden.

Das war auch der Grund, weshalb er ihm die Beziehung zu Carla nicht schlecht reden wollte.

Dennoch ...

»Dag, ich komm mir vor, als würde ich jeden Tag nochmal und nochmal erleben. Weißt du warum? Weil wir irgendwie nur noch dieselben Gespräche führen.«

»Tut mir leid.«

»Nein, du ... du benötigst halt jemanden zum Reden, aber ... die Lösung ... ich kenn die Lösung nicht. Ich kenn dein Problem, auch wenn du es nicht genau aussprichst, aber ... du willst Isabelle vergessen und neu starten. Ohne Grübeln und sonst etwas, aber ... Dag, Isabelle ist deine Familie. Sie ist nicht irgendeine Ex, die du mit vierzehn hast und dann auf Nimmerwiedersehen verlässt. Ihr habt ein gemeinsames Leben gehabt. Ihr habt Kinder bekommen. Sie wird nie, und das meine ich auch so, niemals aus deinem Leben verschwinden. Du musst lernen, damit klar zu kommen.«

»Komm ich aber nich'.«

»Ich weiß. Aber alle Versuche, die du in Angriff nimmst, werden nichts nützen.«

Dag rieb sich die Schläfen. »Ich denke in letzter Zeit oft nach, wie mein Leben jetzt wäre, wenn ... wenn Rio nicht ... denkst du, wir wären dann noch zusammen und glücklich gewesen?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich denke schon, aber ... man weiß nie. Für nichts gibt es eine Garantie.«

»Das sollte es aber. Es würde alles einfacher machen.«

»Aber wäre es dann noch ein Leben? Wenn man wüsste, dass sich nie etwas ändert?«

Dag zuckte mit den Schultern. Natürlich hatte Vincent Recht. Es wäre eintönig, fade und langweilig. Aber ... sorgenfreier. Oder?!

Reißen wir uns gegenseitig raus, oder reiten wir uns rein (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt