Über den Dächern von New York

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Mit gestocktem Atem blicke ich hinunter. Traue mich kaum, mich über das Geländer nach vorne zu beugen. Ich hoffe schwer, ich werde nicht das sehen, was ich vermute.


Es ist dunkle Nacht. Es hat gerade erst zwölf geschlagen. Doch in New York ist es nicht dunkel. Die Stadt schläft nicht.


Grosse Städte schlafen nie, da ist immer etwas los. Es gibt in Grossstädten immer jemanden der irgendwo noch eine Party macht, bei einem Treffen ist oder noch von einem Ort zum anderen muss. Manche beginnen erst um diese Uhrzeit mit solchen Aktivitäten.

Und manche stehen um diese Uhrzeit auf dem Dach eines grossen luxuriösen Appartementkomplex, weil sich etwas ereignet hat, was tragisch und traurig ist. Was man sehen, aber doch nicht sehen will.

Ich atme tief ein und blicke nach unten. Die Höhe ist schwindelerregend. Es sind schliesslich 30 Stockwerke nach unten.

Ich sehe nicht viel, höre dafür aber um so mehr; Die Sirenen des Krankenwagens, der Polizei, der Feuerwehr. Irgendwie kommen die immer alle zusammen.

Ich meine ganz kurz seine Umrisse zu sehen, doch das kann von hier oben eigentlich nicht sein. Es ist, als wäre er bloss ein kleines Strichmännchen... Ein schrecklich verdrehtes Strichmännchen in einer grossen Blutlache.

Wie schnell doch ein Leben vergehen kann. So ein Fall von einem Haus dauert vielleicht ein paar Sekunden... aber das sind deine letzten Sekunden, wenn du ihn antrittst.


Ob ich ihn gekannt habe?

Ja habe ich... flüchtig oder vielleicht auch nicht, so genau kann man das nicht sagen. Lange jedenfalls nicht.


Wieso jemand von einem Hochhaus runterfällt lässt sich, wenn man es brutal ausdrückt, eigentlich mit zwei Theorien erklären: Entweder er hat Selbstmord gemacht oder es war ein Unfall.

Das Gelände hier hält jedenfalls nicht viel.

Wahrscheinlich war er lebensmüde oder hat den Adrenalinkick gesucht.

Er war, so weit ich das einschätzen kann, ein ziemlicher Draufgänger.

Vielleicht war er mit ein paar Kumpels hier oben und sie mussten sich ihren Mut beweisen. Dann hat er sich dagegen gelehnt, möglicherweise noch ein bisschen seinem Gewicht dagegen gefedert und dann das Gleichgewicht verloren oder es ist eingebrochen... das Geländer hier sollte wirklich ein bisschen höher sein.

Oder aber einer seiner Kollegen hat ihn zum Spass geschubst und ist sich nicht bewusst gewesen, was passiert.

Jedenfalls hat er das Gleichgewicht verloren und ist über das Geländer gestürzt. Er hat während dem Fall wahrscheinlich erst kurz vor dem Aufprall begonnen zu schreien und bevor er realisiert hat, dass sein Leben jetzt für immer zu Ende sein wird, ist sein Körper schon am Boden angekommen. Die Organe wurden zerquetscht, die Gliedmassen verdreht, das Blut verteilte sich und er starb sofort an inneren Verblutungen und Zerstörung der Organe.

Es gibt keine Möglichkeit einen Strutz von solcher Höhe zu überleben.

Das ist eine sichere Sache.

Diese Haus ist schon ein bisschen älter, die Sicherheitsvorkehrungen hier oben sind nicht gut.


Eigentlich ist es überhaupt nicht vorgesehen, dass man hier aufs Dach geht. Zugang hat man schliesslich nur vom Penthouse aus und da wohnt er nicht.

Also ist er auch noch irgendwo eingebrochen um hier rauf zu kommen.

Was die Theorie mit dem Selbstmord bekräftigen würde.

Doch warum sollte sich jemand, der so einen Erfolg in einem grossen Konzern hat wie er, sich das Leben nehmen wollen?

Gerade erst seine grössten zwei Rivalen überholt, dazu befördert worden die Firma nach dem Rücktritt des Bosses in zwei Wochen zu bekommen.

Gerade erst in den Luxuskomplex eingezogen, neue Freunde gefunden, da hat man keinen Grund sich das Leben zu nehmen... und doch gibt es Menschen die das tun.

Nach dem Motto: Wenn's am schönsten ist soll man gehen oder was?


Mittlerweile haben die Ärzte ihn untersucht und festgestellt, dass jegliche Rettung zu spät kommt. Die Feuerwehr hält die Schaulustigen fern und sichert das Gelände ab. Die Polizei sucht nach Spuren. Sie befragen Zeugen. Bald werden sie rausfinden, dass er vom Dach runtergefallen ist.

Es gibt immer eine alte Oma die nichts besseres zu tun hat als ihre Nachbarn auszuspionieren.

Dann werden sie hier aufs Dach kommen, die Bewohner des Penthouse ausfragen und versuchen die Todesursache zu klären. Nur dass sie wahrscheinlich noch eine dritte Möglichkeit in Erwägung ziehen werden....

Eine Hand berührt mich sanft an der Schulter und zieht mich vom Geländer weg.

„Wir sollten gehen, die Sachen stehen schon im Flur. Jetzt schau dir das nicht mehr an, so bekommst du nur Mitleid und das macht dich krank."

Er zieht mich in das Penthouse wo seine und meine gepackten Koffer stehen.

„Das Taxi zum Flughafen ist auch schon gerufen und steht in der Parallelstrasse... schau mich bitte nicht so an, du hast das Richtige getan."

„Jemanden zu ermorden ist nie das Richtige..."

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