42. Was meint sie damit?

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°○ Leon ○°

"Vorsicht, ist noch heiß!", meinte ich, als ich Maria einen Kakao an den Tisch in der hinteren Nische des Tankshops brachte. "Nicht, dass du dich wieder verbrennst."
"Danke."
Eddie saß ihr gegenüber, eine Flasche Cola, eine Handvoll Milkyways sowie eine Tüte Chips vor sich auf dem Tisch.
Er hatte sich dazu entschieden, mein Angebot anzunehmen. War mir nur recht so. Sollte er sich halt jetzt auf meine Kosten den Bauch vollstopfen und dann wir wären wieder quitt. Oder so ähnlich. Ich hatte auch keine Ahnung, wie ich das ganze Drama von eben wieder gut machen sollte.
Minchen, die sich von mir losreißt, gerade als ich dabei bin, Maria zu trösten. In der nächsten Sekunde jag ich schon hinter ihr her. Bis ich mich dann auf die Schnauze lege, wie der letzte Vollidiot, während meine wild gewordene Schwester weiter in Richtung Straße rennt.
Sie hätte sterben können, wenn Eddie sie nicht noch rechtzeitig aufgehalten hätte!
Der LKW hätte sie überfahren!
Eddie hatte ihr das Leben gerettet.
Wie sollte ich sowas jemals wieder gut machen können? Ausgerechnet bei Eddie?
Ich half Maria aus ihrer Jacke. "Wie geht es dir?"
"Geht so."
"Sollen wir uns mal deine Füße angucken?", fragte ich weiter.
"Nein."
"Das machen wir später aber noch", meinte ich und strich Maria die Haare über die Schultern, wobei mir erst auffiel, wie struppig sie waren.
"Wo ist Jasmin jetzt?", fragte Maria.
"In ihrem Zimmer", antwortete ich und zog einen Kamm aus meiner Hosentasche. "Und da bleibt sie auch erst mal."
"Es tut mir leid."
"Was denn, Süße?"
"Ich wollte nicht, dass ihr wegen mir Streit bekommt."
"Das war nicht wegen dir", meinte ich und begann Maria die Haare zu kämmen. "Meine Schwester ist einfach nur drüber im Moment, das ist alles."
"Ja... aber sie ist doch erst so wütend geworden, als ich gekommen bin", entgegnete Maria. "Vorher war sie noch ganz lieb, als sie mich noch nicht gesehen hat."
"Kann gut sein, dass Jasmin eifersüchtig auf dich ist", meinte ich.
"Auf mich?" Maria lachte, dann hustete sie. "Das ist doch Quatsch!"
"Wieso?"
"Ja, weil erstens ist sie deine Schwester und so ziemlich der wichtigste Mensch in deinem Leben", antwortete Maria. "Da würdest du doch alles für tun. Auch töten oder so."
"Stimmt, das würde ich", gab ich zu, während ich Maria mit dem Kamm, nachdem ich ihr die Haare damit glatt gekämmt hatte, noch einen geraden Scheitel zog. "Und was war jetzt zweitens?"
"Was meinst du?"
"Du sagtest gerade erstens. Also gibt's doch wohl mindestens noch ein zweitens."
"Ja..." Maria zögerte. "Ich meine halt nur, weil... ist doch wohl relativ unwahrscheinlich, dass Jasmin eifersüchtig auf mich ist."
"Warum ist das unwahrscheinlich?", wollte Eddie wissen.
"Gute Frage", sagte ich, ohne ihn dabei anzusehen, setzte mich stattdessen auf den Stuhl neben Maria und legte meinen Arm um sie. "Sag mal eben!"
Maria schwieg.
"Warum ist das unwahrscheinlich?"
An dieser Stelle kam natürlich wieder das Augenverdrehen. "Ist doch egal."
"Wer bist du denn noch mal?"
"Leon! Bitte, nicht schon wieder!"
"Doch!", erwiderte ich, umgriff Marias Kiefer und schob ihren Kopf in meine Richtung. "So oft, bis du es verstehst! Wer bist du?"
"Niemand!"
"Was wird das jetzt?", wollte Eddie wissen.
"Halt du dich mal da raus und trink deine Cola!", sagte ich, ohne die Augen von Maria zu nehmen. "Wer bist du?"
"Lass mich!", rief Maria, deren Augen füllten sich wieder mit Tränen.
"Wer bist du?", fragte ich wieder.
"Maria", antwortete Maria endlich.
"Und weiter?"
"Rehberg."
"Weiter?"
Maria begann zu schluchzen.
Ich nahm sie noch fester in den Arm, küsste sie: "Wie geht's weiter?"
"Deine Freundin, die-"
"Hübsche, süße."
"Deine hübsche süße Freundin, die immer viel zu lieb zu allen ist."
"Vor allem zu meiner Schwester", ergänzte ich.
"Ich bin überhaupt nicht lieb zu deiner Schwester!"
"Dafür lässt du dir aber ganz schön viel von ihr gefallen."
"Ja, toll!", schluchzte Maria. "Was soll ich denn machen?"
"Du könntest ihr die Meinung sagen."
"Das bringt doch nichts!"
"Immer nur einstecken bringt auch nichts."
"Jasmin hasst mich!"
"Tut sie nicht."
"Doch, das-"
"Sie will halt nur immer Aufmerksamkeit von mir", erklärte ich. "Und wenn du dabei bist, kriegt sie die nicht so."
"Und darum ist sie dann gemein zu dir", fügte Eddie hinzu.
Ich nickte. "Stimmt. Das-"
"Leon!" Richards Stimme ließ mich jäh zusammenfahren.
Hastig drehte ich mich um.
"Was sitzt du da so faul in der Gegend rum? Hast du nichts zu tun?", fragte Richard und kam zu uns an den Tisch gelaufen, wobei sich sein Gesicht bei Eddies Anblick direkt aufhellte. "Eduard!", rief er erfreut. "Dass du dich auch mal wieder hier blicken lässt!"
"Guten Tag, Herr Waldner!", begrüßte Eddie ihn höflich. Und gleichzeitig ängstlich, stellte ich fest und begann Maria behutsam mit der Hand über den Rücken zu fahren. Die hatte das Schluchzen mit Richards Auftauchen gleich abgestellt, so schnell, wie man die Lautstärke am Fernseher ausknipst, dafür bebte ihr Körper jetzt wieder.
"Wie geht es dir? Was macht die Schule?"
"Gut, also.... läuft alles gut", antwortete Eddie.
"Schön!" Richard lächelte. "Und jetzt wolltest du dich gerade mal so richtig satt essen", sagte er und nickte zum Tisch. "Oder wie sieht mir das hier aus?"
"Das hat Leon mir ausgegeben."
"Auf meine Kosten", fügte ich schnell hinzu. Das hinderte meinen lieben Herrn Erzeuger aber natürlich trotzdem nicht daran, mir einen derart düsteren Blick zuzuwerfen, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten.
Ich nahm Maria wieder etwas fester in den Arm, welche stumm in den Stoff meines Pullovers weinte und küsste sie.
"Was ist mit ihr?", wollte Richard wissen, darauf sagte ich das erste, was mir in den Sinn kam. Und von dem ich hoffte, dass es ihn nicht noch mehr gegen mich aufbringen würde, als es der Berg an Süßigkeiten vor Eddie auf dem Tisch schon tat:
"Sie hat sich am Fuß verletzt." Vielleicht provozierte es ihn auch schon, dass ich hier vor ihm saß und atmete, ich wusste es nicht.
"Und deswegen weinst du, Mäuschen?", wollte Richard wissen.
Ja, schon klar, dachte ich, das war jetzt auch nicht das glaubhafteste, was ich ihm hatte auftischen können.
Aber wenigstens hatte ich nicht gelogen.
Maria hatte sich wirklich am Fuß verletzt. Wahrscheinlich sogar an beiden. Das würde mich nicht wundern bei den hohen Hacken an ihren Stiefeln. Wie konnte man auch so dämlich sein und ausgerechnet in solchen Klackerstiefeln einen Kilometermarsch hinlegen? Und warum war sie die Strecke zu mir überhaupt gelaufen?
"Ist es denn so schlimm?" Sachte streckte Richard seine Hand nach Maria aus und tätschelte ihr die Schulter. "Bist du umgeknickt?"
"Nein", antwortete Maria, verbarg ihr Gesicht dabei immer noch in meiner Schulter. "Es tut nur beim Laufen weh."
"Wir müssen da gleich mal nach gucken", meinte ich.
"Tu das!", sagte Richard. "Sonst gibst du ihr was gegen die Schmerzen."
"Ja, das mach ich."
"Und dann kommst du in mein Büro."
Ich nickte. Sah meinem Vater hinterher, als dieser uns den Rücken kehrte und spürte gleichzeitig, wie Maria sich aus meiner Umarmung löste.
"Tut mir leid!" Sie schniefte laut. "Jetzt hab ich dir deinen Pullover versaut."
"Ach Quatsch!", sagte ich. "Ist doch nur ein bisschen Wasser." Und Rotze, dachte ich, als ich die Stelle an meinem hellgrauen Kapuzenpullover musterte, an der Marias Gesicht gelegen hatte. "Außerdem wollt ich mich sowieso gleich umziehen." Ich sah Eddie an, der hatte bisher weder die Schokoriegel noch die Chips angerührt, dafür aber bereits die Cola leer getrunken. "Willst du nichts essen?"
"Nein... ich glaub, ich nehm das lieber mit nach Hause, wenn das okay ist."
"Ist es", sagte ich und stand auf. "Dann gehen Maria und ich jetzt mal Doktor spielen. Komm, Süße!"
"Und was ist mit meinem Kakao? Kann ich-"
"Den mach ich dir gleich wieder warm. Los, komm!"

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt