DIE LIEBE (zu dir)

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Es war so unfair.

Nichts war so unfair, irrational und gemein wie die Liebe. Fair wäre es, wenn ich die Menschen, die mir wichtig waren, gleich stark lieben würde. Nicht unbedingt auf die gleiche Weise, das würde der Individualität einer jeden Beziehung nicht gerecht werden. Aber gleich stark. So, dass ich guten Gewissens behaupten konnte, dass ich den einen dem anderen nicht vorziehen würde. Aber so war es nicht. Ich liebte sie nicht gleich stark. Und das war eine Wahrheit, die weh tat.

Niemand war mir so wichtig wie sie und ich liebte sie auf eine Art, dass es mir regelrecht das Herz brach. Nichts daran verstand ich, konnte es nicht verstehen. So hatte ich noch nie zuvor gefühlt und ich spürte - ich wusste - dass es ihr genauso ging. Wenn ich in ihren Armen lag, hielt die Welt an. Alles andere wurde ein wenig blasser, wenn sie bei mir war. Ihre Arme um meinen Oberkörper, ihre Hand in meinem Nacken, die mich sanft streichelte. Mein Fokus verschob sich. Jedes Gefühl, dass ich hatte, wurde stärker. Gleichzeitig verschwammen alle diese Gefühle zu einem großen Nebel, denn die Liebe zu ihr schob sich vor alles andere. Ich wusste nicht, ob es eine romantische Liebe war. Ob ich mit ihr zusammen sein wollte. Ich wusste nur, dass ich ohne sie nicht konnte. Es war nicht so, dass alles gut war, wenn sie da war. Aber es war alles okay. Alles, was ich fühlte, durfte ich fühlen und alles, was ich dachte, durfte ich aussprechen. Bei ihr konnte ich einfach sein, sein, wie bei niemandem sonst.

Und es tat mir so unendlich leid, dass ich sie so viel mehr liebte als die anderen. Ich wollte ihnen nicht das Gefühl geben, dass sie mir weniger wichtig waren, dass sie mir weniger bedeuteten. Aber ich wusste, dass sie es spürten. Es war so offensichtlich, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie es irgendjemand übersah. Eine jede Gruppenkonstellation fiel mir leichter, wenn sie nicht dabei war. Denn war sie es, verschob sich mein Fokus. Automatisch beschäftigte ich mich mehr mit mir selbst, kehrte mich nach innen und wurde erfüllt von meiner Gefühlswelt. In diesen Momenten reduzierte sich die Kraft, die ich für andere übrig hatte. Fast so, als würde sie sie mir stehlen. Ich wollte ja bei ihnen sein, mit meinen Freunden Spaß haben, gemeinsam lachen, reden, das Leben genießen. Aber ich merkte, dass ich erst richtig frei wurde, wenn sie nicht dabei war. Sie war mein Anker, der mich in unruhigen Momenten festhielt und auf den ich mich immer verlassen konnte. Aber auch ein Anker, der mich manchmal zurückhielt, mich am frei nach vorne schwimmen hinderte. Ich brauchte sie zu sehr, kam nicht von ihr los. Die Kraft, die sie mir schenkte, nahm sie mir gleichzeitig ein Stück weit wieder, denn ohne sie hatte ich diese Kraft nicht.

Und es war so unfair. So unfair, dass ich sie liebte und wie sehr ich sie liebte. So irrational, dass ich andere wegen ihr vernachlässigte. Und so ungerecht, dass ich nicht an ihrer Seite sein durfte. Ich war mir sicher, dass sie mich mehr liebte als ihn, so gemein das auch klingen mag. Jedes Mal, wenn sie von ihm redete, verspürte ich einen kleinen Stich; manchmal zuckte ich schon bei seinem Namen zusammen, unabhängig davon, ob ich ihn hörte, las oder irgendwo ein Foto von ihm sah. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass wir zusammenziehen wollten, obwohl dieser Plan schon mindestens so lange stand, wie die beiden ein Paar waren. Und sie glaubte nicht so recht an Beziehungen, zumindest nicht an die von Leuten unseren Alters und vor allem nicht an ihre eigenen. Sie glaubte nicht daran, dass sie mit ihm zusammenbleiben würde, und aus genau demselben Grund waren wir nicht zusammen, küssten uns nicht mehr, hatten wir Grenzen festgesetzt, die wir körperlich nicht überschreiten wollten. Sie hatte Angst, dass wir unsere Freundschaft aufs Spiel setzten, dass wir uns verlieren würden, wenn wir uns auf eine andere Weise näherkamen. Genauso wie er Angst hatte, dass er sie an mich verlieren würde. Beide Ängste waren sicherlich berechtigt, und trotzdem tat es weh, so weh, dass er sie haben durfte und ich nicht. Dabei wusste ich nicht einmal, ob ich sie haben wollte. Ich wollte eigentlich nicht mit ihr zusammen sein, wollte mich erst noch mehr ausprobieren, wollte erst recht keine Fernbeziehung führen. Doch trotzdem war da diese völlig irrationale Eifersucht, die sich so falsch und so verboten anfühlte. Und da war dieser Wunsch, sie zu küssen, immer, wenn sie in meinen Armen lag. Meine Gefühle für sie waren moralisch so sehr in der sprichwörtlichen Grauzone, wie es nur möglich war. Jedwedes Schwarz-Weiß-Denken in Bezug auf menschliche Beziehungen, auf Richtig und Falsch, hatte die Liebe zu ihr ausgehebelt. Was ich für sie fühlte, war nicht in Worte zu fassen, nicht erklärbar, man konnte es nicht in irgendwelche Schubladen einordnen. Es war einfach da, und in seiner Wucht überforderte es mich zutiefst. Ich fürchtete mich davor, vor mir selbst. Gleichzeitig hatte ich Angst davor, was passieren würde, wenn sich dieses Gefühl veränderte. Würde ich sie irgendwann wieder weniger lieben? Was würde das mit unserer Freundschaft machen? Wird sie bei ihm bleiben, und wenn nein, wann wird sie mit ihm Schluss machen? Was bedeutete es für uns, sollte sie irgendwann wieder single sein? Sie hatte mir das Versprechen gegeben, dass wir heiraten würden, wenn wir mit 25 beide allein waren, in jener Nacht, in der wir eine mögliche Beziehung mit den dazugehörigen möglichen Gefühlen - ausgeschlossen hatten wir die beide nicht - in eine unbestimmte Zukunft verschoben hatten. Doch würden wir das tatsächlich tun? Im Moment konnte ich das noch nicht absehen. Ich konnte nur versuchen, mit meinen Gefühlen zu leben. So kitschig das auch klang, ich schätzte, ich sollte einfach auf mein Herz hören. Denn genauso unfair die Liebe war, so schön war sie auch. Unfair, irrational und gemein. Aber auch schön, einzigartig und wundervoll. Und ich hoffte, dass ich dieses Gefühl nie verlieren würde.

- 18.09.2022

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