„Wie kann man so müde vom Nichtstun sein", murmelte Samantha und schmiegte ihren Kopf an Richards Schulter. Ihren Hut hatte sie achtlos neben sich auf den Sitz geworfen. Ihr Haar bauschte sich in kastanienbraunen, zerzausten Locken und kitzelte ihn am Kinn.
Die Landschaft, die am Kutschenfenster vorbeizog, wirkte in der Dämmerung verwaschen, die langen Schatten wie mit zu viel Tinte gemalt. Die Sonne, die den ganzen Tag über geschienen hatte, stand im Begriff hinter dem fernen Wald unterzugehen. Es war kühl geworden. Arthur war längst eingeschlafen und lag auf dem Sitz ihnen gegenüber, zusammengerollt wie eine Katze.
„Es ist ja auch spät", sagte Richard und malte versonnen mit dem Daumen Muster auf den Rücken ihrer Hand, die in seiner lag. „Und es war ein langer Tag."
„Es war schön heute." Sie lächelte bei der Erinnerung an den Strandausflug.
„Hmm", machte er und blickte über ihren Kopf hinweg in die Dämmerung hinaus.
„Ich werde gleich nach Hause reiten, wenn Sie nichts dagegen haben, Sir", sagte Mr. Hatfield, der zu Pferd neben der Kutsche einherritt. Er hatte sich im Sattel vorgebeugt und blickte durch das Fenster.
„Nur zu, Hatfield. Wir sehen uns morgen."
„Schönen Abend, Sir. Ma'am."
„Gute Nacht, Mr. Hatfield."
Hatfield nickte zum Abschied und Richard hob grüßend die Hand und sah seinem Verwalter nach, wie er die Kutsche überholte und sein Pferd querfeldein über die Felder traben ließ, was eine enorme Abkürzung nach Ferywood Manor darstellte.
Hatfield war längst verschwunden, als die Kutsche, eine ganze Weile später in gemächlichem Tempo von der Landstraße durch das schmiedeeiserne Tor abbog, das die Auffahrt zum Herrenhaus markierte. Auch wenn man Ferywood Manor vom Dorf aus herrschaftlich über dem Ort auf dem Hügel thronen sah, dauerte es, hatte man erst einmal die Grundstücksgrenze überschritten, noch eine ganze Weile, bis man das Haus hinter den alten Platanen, die die gewundene Auffahrt säumten, wieder erblickte.
„Hatfield ist sicher längst zu Hause", bemerkte Samantha und unterdrückte ein Gähnen. „Und steckt seine Beine vor dem Kamin aus."
Die Verwalterwohnung befand sich in einem Anbau an die Remise, zwischen Stallungen und Herrenhaus. Es war ein solider, zweistöckiger Steinbau mit einem Büro, Wirtschafts- und Lagerräumen im Erdgeschoss und einer behaglichen Wohnung im ersten Stock.
„Das werde ich auch gleich tun." versicherte ihr Richard. Als die Kutsche vor dem mit korinthischen Säulen flankierten Portal anhielt, hob er den schlafenden Arthur vorsichtig auf seine Arme.
„Wo sind denn alle?", wunderte er sich, als er hinter Samantha aus der Kutsche stieg. Normalerweise kam zumindest Pelham zur Tür, um sie zu begrüßen.
„Seltsam", fand auch Samantha und ein unbehagliches Gefühl stieg in ihr hoch. Instinktiv hielt sie sich nah bei Richard.
Dann öffnete sich die schwere, geschnitzte Eichentür und Samantha wollte schon aufatmen. Aber es war nicht Pelham, der im Türrahmen erschien, sondern Richards Kammerdiener Fry.
„Fry, was ist hier los?", fragte Richard mit einem scharfen Unterton. Es war klar, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Sir", sagte Fry und rang nervös seine Hände. „Wie gut, dass Sie hier sind."
„Ist etwas mit Pelham?", fragte Samantha alarmiert.
„Nein, das heißt...", stammelte Fry und brachte den Satz nicht zu Ende, sondern seufzte nur schwer und machte dabei eine verzweifelte Geste.
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Die Schatten von Ferywood
Historical Fiction~ Teil 2 der Ferywood-Saga ~ 1818 - Über 2 Jahre sind seit der schicksalhaften Schlacht von Waterloo vergangen. Richard und Samantha leben als Lord und Lady Velton in Paris. Sie glauben, die Vergangenheit und die Zukunft hinter sich gelassen zu habe...