Ein silbernes Auto stand in der Auffahrt von Ferywood Manor und ein Stück entfernt, im Schatten einer unbeschnittenen Platane, ein Motorrad. In dem Blumenbeet, das etwas verwildert wirkte, stand die moderne Skulptur, aber ansonsten sah Ferywood Manor aus, wie es immer ausgesehen hatte. Es war dämmrig, aber nicht kalt, als Samantha die Auffahrt entlangging. Sie bewegte sich lautlos und doch glaubte sie, den Kies unter ihren Füßen leise knirschen zu hören, die kleinen, spitzen Steine zu spüren. Sie war zurück, in der Zukunft, oder zumindest ein Teil von ihr.
Die Eingangstür stand offen und so ging sie hinein, nachdem sie die wenigen Stufen zum Eingang, die ihr so vertraut waren, hinaufgestiegen war. Sie blinzelte in dem hellen elektrischen Licht, das ungewohnt war für ihre Augen, die an Kerzenschein gewöhnt waren. Bis auf die Beleuchtung hatte sich die Eingangshalle aber ansonsten kaum verändert. Unter ihren Füßen befanden sich wie eh und je die Schachbrettfliesen, wenn der Stein auch abgewetzter war und hie und da ein kleiner Riss zu sehen war. Entlang der Wände standen noch immer die geschnitzten hochlehnigen Stühle im Tudorstil, die dekorativ, aber unbequem waren. Am Fuße der Treppe stand ein kleines rundes Tischchen, auf dem Pelham abends einen Kerzenleuchter abstellte, damit niemand im Dunkeln die Treppe hinaufgehen musste. Jetzt stand dort eine moderne Vase aus italienischem Glas. Die geschwungene Treppe aus dunklem Eichenholz wand sich wie eh und je nach oben zur Galerie, durch die man zu den übrigen Wohnräumen gelangte. Die Türen zur Bibliothek, dem Speisezimmer und dem großen Salon waren geschlossen.
Samantha atmete tief durch, auch wenn sie hier war und auch wieder nicht, so war es doch ein vertrautes Gefühl. Ferywood Manor war ihr Zuhause.
Doch dann hörte sie ein Geräusch, das sie in ihrem gemächlichen Rundgang innehalten ließ. Eine Tür wurde geschlossen. Samantha konnte, weil sie sich so gut auskannte und ihr jedes Geräusch vertraut war, ausmachen, dass es die Tür zum Arbeitszimmer sein musste, die geschlossen worden war. Sie hörte Schritte, die die Bibliothek durchquerten. Gleich würde sich die Tür öffnen und die Person, sicherlich war es Lord Philipp Latimer oder seine Frau, die Halle betreten, ohne zu ahnen, dass Besuch aus einer anderen Zeit da war. Samantha gab sich keine Mühe, sich zu verstecken. Es war unnötig, denn sie wusste, dass sie sie nicht würden sehen können.
Nun ging die Tür auf, aber es waren nicht die Veltons, sondern Viv, die einen Packen Unterlagen im Arm hatte. Samantha und die junge Frau erstarrten im selben Augenblick. Denn Viv konnte Samantha ganz offensichtlich sehen.
„Sie schon wieder!", stieß sie aus. Sie wirkte irgendwie atemlos, aber nicht zu Tode erschrocken, wie man das hätte erwarte können, wenn man einen Geist sah.
„Dasselbe könnte ich auch sagen", gab Samantha mit zweckdienlichem Hochmut zurück, der eigentlich nicht ihrer Persönlichkeit entsprach. Aber diese Frau irritierte sie und so rettete sie sich in unnahbare Würde. „Was haben Sie hier zu suchen?"
„Ich arbeite hier."
„Ach? Und in welcher Funktion?"
„Sind Sie von der Gewerkschaft oder so?", blaffte Viv ungehalten zurück und machte zwei Schritte auf Samantha zu. Sie war es gewohnt, dass ihr die Leute höflich begegneten, oder zumindest den äußeren Schein wahrten. Vivs Direktheit verblüffte sie.
„Hat's Ihnen die Sprache verschlagen?" Ein gemeines Grinsen huschte über Vivs Gesicht.
Samantha holte tief Luft. War sie nicht der Geist in dieser Geschichte? Hätte nicht eigentlich Viv Angst vor ihr haben sollen? Kurz spielte sie mit dem Gedanken irgendetwas geisterhaftes zu versuchen, um Viv zu erschrecken, aber allein die Vorstellung war zu komisch. So komisch, dass sie lächeln musste.
Dieses Lächeln schien jedoch wiederum Viv zu irritieren. Sie musterte Samantha. Deren langes, spitzenbesetztes Nachthemd aus einer anderen Zeit musste ihr längst aufgefallen sein. Ebenso wie das lange sorgsam geflochtene Haar, dass ihr in einem langen Zopf über den Rücken fiel und ihr blasser Teint.
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Die Schatten von Ferywood
Ficción histórica~ Teil 2 der Ferywood-Saga ~ 1818 - Über 2 Jahre sind seit der schicksalhaften Schlacht von Waterloo vergangen. Richard und Samantha leben als Lord und Lady Velton in Paris. Sie glauben, die Vergangenheit und die Zukunft hinter sich gelassen zu habe...