Day 1: Gargoyle

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Neugierig spähte der kleine, drachenartige Wasserspeier, der kaum ein Jahr alt war, über das steinerne Geländer. Sein kleines Maul verzog sich zu einem Grinsen, bevor es sich öffnete und einen Schwall Wasser auf den ahnungslosen Bürger, der viele Meter unter ihm an der Kathedrale vorbeilief, fließen lies. Sofort versteifte sich der kleine Wasserspeier um wie aus Stein zu wirken, obwohl er kaum ruhighalten konnte. Der Mann den er geduscht hatte, zeterte und blickte sich suchend nach dem Missetäter um, während die anderen Menschen achtlos an ihm vorbeiliefen und nur einen seltsamen Blick für ihn übrig hatten. Sobald der Tumult sich gelegt hatte, sprang der kleine Wasserspeier vom Geländer und kugelte sich auf dem Boden der steinernen Terrasse vor Lachen. Seine Aktion blieb nicht unbemerkt, ein ausgewachsener Wasserspeier kam im nächsten Moment eine ausgewachsene Wasserspeierdame mit strengem Blick um die Ecke stolziert. Sie hatte die Figur eines eleganten Drachens mit kräftigen Löwenbeinen und einem Paar mächtiger Flügel, die jedoch meist zusammengefaltet auf ihrem Rücken lagen.

„Wie oft habe ich dir bereits gesagt, dass du das lassen sollst?", fragte sie den kleinen Wasserspeier.

„Oft genug, aber es macht einfach Spaß!", antwortete dieser spielerisch und hüpfte wieder auf das Geländer. Die Wasserspeierdame seufzte.

„Du weißt, dass wir nicht einfach die Menschen nass spritzen, sie könnten uns bemerken."

Herausfordernd blickte der kleine Wasserspeier sie an und deutete mit einer Klaue über das Geländer nach unten.

„Und was ist mit dem hier?"

Die Wasserspeierdame näherte sich dem Geländer und spähte hinunter auf den Mensch auf den der Kleine zeigte. Es war ein Menschenjunges, doch keines der ganz kleinen, sondern eines das beinahe ausgewachsen war. Es blickte sich um, beinahe als suche es jemanden.

„Was soll mit ihm sein?", fragte die Wasserspeierdame.

„Er kommt oft hier hoch, meistens aber nur auf den Dachstieg, aber mittlerweile immer öfter auf das Dach und die Terrassen. Dort ärgert er die Vögel und macht manchmal ihre Nester kaputt."

Die Wasserspeierdame schnaubte verärgert. Die Vögel waren gute Freunde der Wasserspeier und sowas zu hören machte sie sauer. Kurzerhand beugte sie sich über das Geländer und spuckte ihrerseits einen gewaltigen Wasserstrahl aus, viel größer als der des Kleinen.

Überrascht und erfreut sah der kleine Wasserspeier die größere an. Während das Menschenjunge unten schrie, sagte die Dame zu dem Kleinen: „Nunja, manchmal kann man Ausnahmen machen."

Inktober 2022 (but I write)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt